Demütigung im Straßenverkehr: Die Rache der Radfahrerin
Von einem Mercedes abgedrängt zu werden, ist unangenehm. Aber wie viel Hass rechtfertigt das?
K ürzlich schob ich mein Rad durch die Fußgängerzone, als ich den Ethikrat sah, der ein grünes Zelt mit gelben Rüschen aufbaute. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik geben. Neben dem Zelt stand ein Käfig mit einem dicken schwarzen Huhn, das der Vorsitzende des Ethikrats mit einer einladenden Handbewegung herauszulocken versuchte. „Guten Tag“, sagte ich, „ich vermute, dies ist ein neues Forschungsprojekt.“ Ich sagte es unfroh, denn ich war gerade dem schwarzen Mercedes wiederbegegnet, mit dem mich vor drei Wochen zwei Halbstarke mit großer Freude abgedrängt hatten. Ich hatte tatsächlich Angst gehabt, und da war ihre Freude noch größer gewesen.
„Tsch“, sagte der Ratsvorsitzende in Richtung Huhn, das nach ihm hackte, und wies auf ein Schild, das am Zeltdach hing. „Alectryomantie to go – 5 Minuten, die Ihre Zukunft verändern werden. Nur 20 Euro“, stand darauf. „Was ist Alectryomantie?“, fragte ich, verhedderte mich in dem Wort und dachte wieder einmal, dass es ungerecht war, dass sich die Mitglieder des Ethikrats ein Leben als entfesselte Epikureer im Grundschulalter eingerichtet hatten, während ich damit beschäftigt war, ein potemkinsches Dorf von Seriosität zu zimmern, das ohnehin niemanden überzeugte. „Es ist die Kunst des Wahrsagens, die sich eines Vogels bedient“, sagte der Ratsvorsitzende und zog das widerstrebende Huhn aus seinem Käfig. „Grundlage dieser Prophezeiung ist die Körnerspur, die es hinterlässt“, sagte er und wies auf die beiden anderen Ratsmitglieder, die aus einem Leinenbeutel Getreidekörner aufs Pflaster streuten.
„Gibt es da nicht einen Konflikt mit der Idee der Willensfreiheit?“, fragte ich. „Wenn es eine feststehende Zukunft gibt, ist es doch gleichgültig, was wir tun“, setzte ich noch hinterher. „Wir gehen in der stoischen Tradition von einer wahrscheinlichen, aber nicht zwingenden Zukunft aus“, sagte der Ratsvorsitzende unbeeindruckt, aber er sagte es in Richtung Huhn, dem er auf dem Weg zum Kornhaufen folgte.
Das Huhn plusterte sich zu doppelter Größe auf, und ich musste an den Mercedesfahrer denken. „Ich zeige ihn an“, hatte ich meiner Familie gesagt, nachdem er mich abgedrängt hatte, und mich kurz besser gefühlt. Erst später war mir eingefallen, dass es schwierig sein würde, bei der Polizei mit nichts als meinem Zorn als Beweismittel aufzutauchen. Ich dachte oft und voller Hass an den Mercedes. Umso unentschuldbarer, dass ich bei der zweiten Begegnung zu übertölpelt gewesen war, um mir das Kennzeichen zu merken.
Leben mit der Demütigung
„Folgt das Bedürfnis, die Fahrer anzuzeigen, dem berechtigten Zorn auf diejenigen, die die Angst der anderen genießen? Oder ist es der unsouveräne Umgang mit einer subjektiv empfundenen Demütigung?“, fragte ich den Ethikrat. „Welchen Unterschied würde das machen?“, fragte der Ratsvorsitzende zurück, und ich dachte einmal mehr, wie unergiebig ich diese Art der philosophischen Schulung fand. „Wäre es vielleicht möglich, dass ich als Testperson diene?“, sagte ich stattdessen, denn mir war eingefallen, dass ich das Huhn fragen könnte, ob ich dem Mercedes ein drittes Mal begegnen würde.
„Selbstverständlich“, sagte der Ratsvorsitzende, und tatsächlich streute der Rat eine Handvoll Körner vor das Huhn, das gierig zu picken begann. Es pickte und pickte und ich glaubte, ein geschwungenes J erkennen zu können, als eine Windböe alle Körner davontrug. „Welch ein starkes Symbol für die Willensfreiheit“, rief der Ratsvorsitzende euphorisch. „Tatsächlich“, sagte ich mürrisch, aber da entfernte sich das Huhn und mit ihm der Ethikrat.
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