Demokratisches Potenzial der Stammkneipe: Mehr Kiez und Keule wagen
Auf dem Weg vom Kottbusser Tor zum Hermannplatz prallt viel aufeinander. Es sind Widersprüche, die sich in den Armen liegen können.
E in lästiger Wust an Politthemen spukt mir im Kopf umher, laufe ich dieser Tage durch Kreuzberg und Neukölln. Gern mal vom Kottbusser Tor, dessen „Kotze am Kotti“ Peter Fox mit „Schwarz zu Blau“ ein Denkmal setzte, zum Hermannplatz, dem Mündungsdelta der berüchtigten Sonnenallee.
Zwischen beiden Destinationen liegen 1,3 Kilometer Kreuzköllner Asphalt: die Kottbusser Straße und der Kottbusser Damm. Über den Kanal verbunden durch die Kottbusser Brücke, mit der Synagoge und dem Paul-Lincke-Ufer in bester Sonnenlage auf der einen Seite, der hanseatischen Ankerklause und dem orientalisch geprägten Wochenmarkt am Maybachufer auf der anderen.
Die Rede ist hier, symbolisch gesehen, von der Debattenmagistrale unseres sich in Rassismen suhlenden Wahlkampfs. Über 100 Nationen, etliche Geflüchtete darunter, kartoffelige Sozialfälle, kanakisches Prekariat und vieles mehr. Armut? Überall! Drogen? Knallen! Arbeitslosigkeit? Wie Blei an den Füßen! Kriminalität? Hoch! Muslimisch? Hamdulillah! Revolutionär? Bella Ciao! Long Story short: Hier geht jeder jedem gern mal dezent auf die Nerven.
Man könnte also meinen, Kreuzkölln wäre eine Hochburg der Rechtsextremen. Nope! Hier und ringsum stehen die Hüpfburgen der linksgrünen Versifftheit. Die AfD ist einstellig, zum Teil unter 5 Prozent. Was nicht ist, kann leider noch werden. Neben ihrem völkischen Rassismus arbeitet sie neuerdings mit einer anderen Spielart des Menschenhasses, mit der sie Deutsche mit Migrationshintergrund (jedoch inzwischen ohne Verständnis für Geflüchtete) perfide ködert.
Aber dennoch: All das steht insbesondere für Zugewandtheit, belegt durch etliche Erfolgsgeschichten, bei Weitem nicht frei von Problemen und Abgründen, aber im Miteinander womöglich eine Werkstatt für das ganze Land. Ihre Räume sind die Cafés, Teestuben und Baklava-Patisserien, die Shishabars, Ateliers und Fitnessstudios. Meist ein mit Rassismus und Klassismus aufgeladener Fleck politisch-medialer Klischeeanschauungen, deren desaströsen Folgen sich in widerlichen Taten wie der vor fünf Jahren in Hanau widerspiegeln. Auch in Kreuzkölln treibt ein von Amts wegen nur träge verfolgter brauner Mob sein dreckiges Unwesen.
Die Spelunke der Herzen
Was auf gar keinen Fall fehlen darf, ist der nur scheinbar widersprüchlichste Hort dieses besonderen Miteinanders. Den Kreuzköllner Wandel haben einige wenige Exemplare bis heute überlebt, die Rede ist von der Spelunke der Herzen, dem wohl deutschesten unter den Almanklischees: der Eckkneipe.
Meine lauert unweit des Kottbusser Damms, kaum ist man drinnen, umgibt einen das dichte Treiben der Moleküle. In der Luft tausend Kilo Tabak, in den Adern der Sprit eines Rennwagens. Die Kehlen brennen, die Augen tränen. Hier prostet Zilles Milljöh mit dem Uni-Campus, Lederhaut trifft auf Haut in Leder, Hipster auf Atzen, Diven auf Keulen, Mehmet auf Kalle, manchmal alles in einer Person.
An den Wänden Hertha BSC, die Bar ist hier noch Tresen, dahinter Berliner Schnauze wie vor fuffzig Jahren, konserviert im Herrengedeck – auch als Frau. Sobald sich pegeltechnisch alle auf Augenhöhe begegnen, winkt man sich von den Tischen und den Dartscheiben schunkelnd zu. Einen Tacken später liegen sich Schlager und Soul in den Armen, junge Queers und altberliner Heten machen am Ende hitziger Diskussionen High five, Doris vom Zapfhahn packt einen Dealer am Kragen – er zwei Köppe größer, sie ebenso viele breiter – und zerrt ihn raus, ohne dass auch nur eine Faust fliegt.
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