Demokratiebewegung in Nigeria: Unvollendeter Freiheitskampf
Vor knapp 30 Jahren wurde in Nigeria der Umweltaktivist Ken Saro-Wiwa von der damaligen Militärdiktatur gehängt. Jetzt wird er endlich rehabilitiert.

D er 12. Juni ist in Nigeria ein historischer Tag, im Rest der Welt so gut wie unbekannt. Am 12. Juni 1993 fanden in Afrikas bevölkerungsreichstem Land die freiesten Präsidentschaftswahlen seit der Unabhängigkeit statt. Es war ein Festtag. Nach knapp zehn Jahren Militärherrschaft sollte wieder Demokratie einkehren; ein Parlament war bereits gewählt. Aber noch bevor der Wahlsieg des von vielen Demokratieaktivisten unterstützten Geschäftsmanns Moshood Abiola amtlich verkündet werden konnte, annullierte Militärherrscher Ibrahim Babangida die Wahl und beendete das demokratische Experiment, noch bevor es begonnen hatte.
Er übertrug die Macht einem Technokratenkabinett, und wenige Monate später brachte ein erneuter Militärputsch General Sani Abacha an die Macht, der die finsterste Militärdiktatur in Nigerias Geschichte errichtete. Abiola wanderte ins Gefängnis und starb nach einigen Jahren in Einzelhaft, die Demokratiebewegung wurde gnadenlos verfolgt – bis zu Abachas plötzlichem Tod im Jahr 1998, angeblich an einer Überdosis Viagra in den Armen einer Prostituierten. Nigeria wurde danach doch noch zur Demokratie geführt, aber der Elan des 12. Juni 1993 war dahin.
Der 12. Juni ist inzwischen Democracy Day in Nigeria, und am 12. Juni 2025 hat Nigerias aktueller gewählter Präsident Bola Tinubu zahlreiche damalige Akteure mit Auszeichnungen geehrt, manche davon posthum. Nigeria wolle „diejenigen würdigen, die in der Vergangenheit Opfer gebracht haben, die sich mutig gegen die Gewehre stellten, damit wir Demokratie in unserem Land haben“, sagte der Präsident vor dem Parlament.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Tinubu selbst war 1992 ins nigerianische Parlament gewählt worden und war später Mitgründer der Nadeco (National Democratic Coalition), einer Allianz derjenigen, die die Anerkennung der Wahl vom 12. Juni 1993 verlangten und entweder im Untergrund oder, wie Tinubu, im Exil ausharrten. Nach dem Ende der Militärherrschaft machte er sich zunächst als Gouverneur von Lagos, der größten Stadt in Nigeria und in ganz Afrika, einen Namen als Reformer. Staatspräsident ganz Nigerias wurde Tinubu aber erst bei den Wahlen 2023, und er gilt heute als zu alt und zu kraftlos, um das kriselnde Land umzukrempeln. Aber immerhin würdigt er nun endlich offiziell das Erbe des nigerianischen Freiheitskampfs.
Zu den Geehrten gehört Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka, der unermüdlich seine Stimme gegen Nigerias Missstände erhebt. „Eine kleine, machthungrige Gruppe hat unserem Volk den Krieg erklärt“, schrieb Soyinka in der taz nach der Annullierung der Wahlen 1993 und forderte scharfe internationale Maßnahmen: „Muss die Welt darauf warten, bis wieder einmal Menschen verschwinden, bis Folterkammern institutionalisiert werden, bis alle Stimmen wieder zum Verstummen gebracht worden sind?“ Die Welt wartete damals dann doch. Aber die Stimmen verstummten nicht.
Bekanntester Märtyrer der nigerianischen Demokratiebewegung wurde der Schriftsteller und Umweltaktivist Ken Saro-Wiwa. Sein Kampf gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen seiner Volksgruppe der Ogoni durch die Ölförderung des Shell-Konzerns im Niger-Flussdelta fand globale Beachtung, und er wollte eben auch Nigerias Gesamtzustand verändern. Seine Bewegung boykottierte die Wahlen vom 12. Juni 1993, schloss sich aber den Protesten gegen ihre Annullierung an.
Saro-Wiwa wurde inhaftiert und zum Tode verurteilt. Am Vormittag des 10. November 1995 wurde Saro-Wiwa im Militärgefängnis von Port Harcourt zusammen mit acht Mitstreitern gehängt; angeblich brauchte es mehrere Versuche, bis der 54-Jährige am Galgen baumelte. In einem aus dem Todestrakt geschmuggelten Brief hatte Saro-Wiwa zuvor geschrieben: „Ich fürchte nicht, hingerichtet zu werden. Ich erwarte es. Wir haben es mit gewissenlosen Leuten zu tun, mit blutrünstigen Steinzeitdiktatoren. Sie sind für den afrikanischen Albtraum verantwortlich, fürchten sie sich doch vor Ideen und vor Leuten mit neuen Konzepten.“
Nun hat Tinubu Saro-Wiwa und seine Mitstreiter, kollektiv „Ogoni Nine“ genannt, posthum begnadigt – der aufsehenerregendste Akt dieses 12. Juni 2025. Saro-Wiwas Ermordung hatte 1995 für weltweites Entsetzen gesorgt – und dennoch mordete Nigerias Diktatur ungerührt weiter. Es gab für die Welt Wichtigeres als das Schicksal von damals 105 Millionen Menschen. Heute leben in Nigeria geschätzt 237 Millionen; in einem Vierteljahrhundert dürften es 400 Millionen sein.
Utopische Ziele
In Nigeria werden mehr Kinder geboren als in ganz Europa. Aber welches kollektive Gedächtnis sie prägt, ist im Rest der Welt so gut wie unbekannt. Bittere Armut, allgegenwärtige Unsicherheit, Gewalt als Herrschaftsprinzip, Korruption als Überlebensprinzip – all dies sollte der 12. Juni einmal überwinden, und all dies nimmt aktuell eher wieder zu. „Wut und Nihilismus fassen Fuß“, mahnte Soyinka vor fünf Jahren in der taz, als eine neue Jugendprotestbewegung das Land ergriff, nur um brutal niedergeschossen zu werden.
In Nigerias intellektuell wichtigster Tageszeitung Guardian schrieb jetzt ein Kommentator anlässlich des 12. Juni, das Land sei geprägt von „einer erstickenden Masse unverständlicher Reformvorhaben, einer allgemeinen Wahrnehmung schlechter Führung, einem greifbaren Niedergang der Institutionen, einer Vernachlässigung sozialer Werte“.
Dass das Todesurteil gegen Saro-Wiwa erst jetzt überhaupt aufgehoben wird, ist bezeichnend dafür, dass Nigerias Freiheitskampf unvollendet geblieben ist. „Bekennen wir uns zu den Idealen des 12. Juni“, sagte Präsident Tinubu zum Abschluss seiner Gedenkrede und erkannte damit an, dass diese Ideale noch immer nicht Wirklichkeit sind: „Freiheit, transparente und rechenschaftspflichtige Regierung, soziale Gerechtigkeit, aktive Bürgerbeteiligung und eine gerechte Gesellschaft, in der niemand unterdrückt wird.“ Ein einfacher Katalog. Und für Nigeria eine Utopie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Familienreservierungen bei der Bahn
Völlig überzogene Kritik
Israelische Angriffe auf den Iran
Bomben stürzen keine Diktatur
Veteranentag in Berlin
Danke für Euren Einsatz, Antifa Werkstatt
Eskalation in Nahost
Israel muss Irans Volk schonen
Strafbarkeit von Holocaustvergleichen
Wir brauchen keine Metaphernpolizei
Debatte um Wehrpflicht
Wehret der Pflicht