Demo gegen Polizeigewalt in New York: „Es ist die Geschichte dieses Landes“
Nachdem ein Polizist trotz tödlicher Schüsse auf einen Teenager in Ferguson nicht angeklagt wurde, gibt es in den USA Proteste – auch in New York.
NEW YORK taz | „Keine Anklage“, ruft die Frau auf dem Union Square in Manhattan. „Keine Anklage“, raunen andere Stimmen im Flüsterton weiter. Es ist die Entscheidung in Ferguson, die alle hier seit Wochen befürchtet haben. Als sie kommt, verstummen die mehreren hundert Menschen, die zuvor Slogans gerufen und sich gegenseitig Mut gemacht haben. Es ist ein bunt gemischter Haufen. Afroamerikaner. Weiße, ein paar Latinos und ein paar Asiaten. Fast alle sind unter 30.
Fäuste gehen in den Nachthimmel über New York. Das Schweigen dauert viereinhalb Minuten. Darum haben die Eltern von Michael Brown die Demonstranten quer durch die USA gebeten. Stellvertretend für die viereinhalb Stunden, während derer die Leiche ihres Sohnes am zweiten Samstag im August auf dem Asphalt des Canfield Drive, ein paar Schritte vom Haus seiner Oma liegen blieb. Nachdem der Polizist Darren Wilson den unbewaffneten, schwarzen Teenager erschossen hatte.
Als das Schweigen zu Ende ist, sind die Polizisten etwas näher an den Platzrand vorgerückt. Und aus der Menschenmenge kommen energische Rufe: „No Justice – No Peace.“ Und: „Fuck the Police.“ Es ist ein frühlingshaft warmer Abend. Manche Männer tragen kurzärmelige T-Shirts, manche Frauen sind bauchfrei gekommen. Es ist eine von vier Ferguson-Demonstrationen, die an diesem Abend allein in New York stattfinden. Kurz vor zehn Uhr abends setzt sie sich im Laufschritt in Bewegung. Es ist ein zorniger Marschschritt.
In der US-Kleinstadt Ferguson ist es am Montagabend (Ortszeit) bei Protestkundgebungen gegen die Jury-Entscheidung nach den tödlichen Schüssen auf einen schwarzen Jugendlichen zu ersten schweren Gewaltausbrüchen gekommen. Demonstranten warfen mit Flaschen und Ziegelsteinen auf Polizeifahrzeuge, wie die Sender CNN und MSNBC berichteten. Mehrere Autos, darunter auch ein Streifenwagen, sowie zwei Läden gingen in Flammen auf. Mehrere Gebäude wurden geplündert. In der Stadt waren Rauchwolken zu sehen. Demonstranten zerschlugen zudem mehrere Schaufensterscheiben von Läden.
Nach CNN-Angaben hatte die Polizei zuvor Tränengas eingesetzt. MSNBC sprach von Rauchbomben. Im US-Fernsehen waren auch Bilder von vereinzelten Feuern zu sehen. Mehrere Schüsse seien zu hören gewesen, hieß es weiter. Die Zeitung St. Louis Post-Dispatch sprach auch von Plünderungen. Hunderte Demonstranten besetzten zeitweilig eine Schnellstraße.
Die Proteste richteten sich gegen die Entscheidung einer Geschworenenjury, einen weißen Polizisten nach tödlichen Schüssen auf einen schwarzen Teenager nicht anzuklagen.
„Wie viel müssen wir noch tun, um endlich gleich behandelt zu werden?“, fragt die 23jährige Kiera. Sie hat Tränen in den Augen: „Offenbar wollen sie gewalttätige Reaktionen“. Sie ist gleich nach Dienstschluss der Kleiderboutique, in der sie arbeitet, zu der Demonstration gekommen. Wie viele junge AfroamerikanerInnen an diesem Abend wollte sie nicht allein mit ihren Gefühlen bleiben. „Es betrifft uns alle hier“, sagt sie, „es ist die Geschichte dieses Landes“.
„Die Kugeln für Mike Brown hätten mich treffen können“, sagt der 35jährige Tischler Christian: „Oder meinen Sohn in ein paar Jahren“. Der junge Mann mit den Rastalocken zieht neben seiner Frau über die 14. Straße und die 6. Avenue in Richtung Times Square. Vor vielen Restaurants stehen Köche und Kellner. „Reiht Euch ein“, rufen ihnen Demonstranten zu: „als nächstes kann es Euch treffen.“
Freibrief zum Killen
Tischler Christian glaubt, dass „die Polizei in Ferguson einen Freibrief zum Killen bekommen hat“. In den vergangenen Wochen ist ihm oft ein Gedanke durch den Kopf gegangen: „Vermutlich muss erst ein paar Polizisten etwas Schreckliches passieren muss, damit die anderen verstehen, dass wir gleiche Rechte haben.“ Hinter ihm skandieren andere junge Leute einen der vielen Slogans, die in den mehr als drei Monaten seit Mike Browns Tod entstanden sind: „Schwarze Leben zählen“.
Michael hat in seinen 37 Jahren schon oft gegen Polizeigewalt gegen schwarze Teenager protestiert. An diesem Abend empfindet er erneut eine „unbeschreibliche Wut“. Zugleich ist der Sohn eines irisch-afroamerikanischen Paars weniger niedergeschmettert als noch vor ein paar Wochen. Der Grund: die vielen jungen Leute, die jetzt auf der Straße sind, um ihren Unmut über die Grand Jury-Entscheidung zu zeigen. „Empört Euch“, ruft ein Demonstrant Touristen zu: „Dies hier geht Euch auch an“.
Die Polizei versucht mit der schnellen Demonstration, die oft unerwartet nach links oder rechts abbiegt, Schritt zu halten. Auf einer Seite der Demonstration fahren Polizisten auf Motorrädern. „Wieviele Kids hat Du schon erschossen?“, fragt eine ältere Demonstrantin einen Polizisten. Der sagt nichts. Und senkt den Blick hinter dem Visier seines Helms.
Auf dem von Schaufenstern und Leinwänden taghell erleuchteten Times Square löst sich die große Demonstration kurz vor 23 Uhr auf. Kleinere Demonstrationsgruppen ziehen in unterschiedlichen Richtungen mitten auf der Straße weiter. „No More Killer Cops!“, rufen sie, während Polizisten versuchen, den dichten Verkehr zu regeln. Über der Straßenschlucht kreisen mehrere Hubschrauber.
In der Menge erinnert sich eine 43Jährige daran, dass sie schon als kleines Mädchen mit ihren Eltern gegen Polizeigewalt gegen Afroamerikaner demonstriert hat. „In den letzten Jahren sind die Dinge eher schlimmer geworden“, sagt Khadidja, „die Weißen haben Angst, dass wir uns alle zusammen schließen. Und sie wissen, dass sie schon bald nicht mehr die Mehrheit haben werden.“
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