Demenz des Krimiautors Gunter Gerlach: Zum Abschied ein Buch

Der Autor Gunter Gerlach hat in der Hamburger Literaturszene viel bewegt und ist an Demenz erkrankt. Seine Weggefährten würdigen ihn in Abwesenheit.

Gunter Gerlach steht vor einem Hauseingang.

Da konnte er noch die Literatur-Quickies moderieren: Gunter Gerlach vor etwa acht Jahren Foto: Uwe Boehm

HAMBURG taz | In seiner Schreibwohnung im tiefsten St. Pauli habe ich ihn zuletzt besucht, nachdem er aus seiner Schreibwohnung im Karoviertel dorthin gewechselt war: in ein schmuckloses Wohnhaus mit Blick auf eine Pizzeria, die eine Bundeskegelbahn im Keller hatte. Gunter Gerlach hatte dort schon einmal gewohnt, vor 14 Jahren, hatte den Kontakt zu der Vermieterin nie abreißen lassen.

Und als er etwas Kleineres und Günstigeres brauchte, war er wieder dort gelandet, wo er in nur vier Monaten einen neuen Krimi fertigschrieb: „Der Mensch denkt“; ein Krimi, der das Genre wieder einmal sprengte: Einen Mann überschwemmen die Gedanken der anderen, er kann sie nicht filtern, sie nicht ausblenden, es sei denn, das Gegenüber hält fünf Meter Abstand. Der Mann muss das natürlich streng für sich behalten; darf nicht mal seiner Freundin davon erzählen, denn was würde die tun, wenn sie wüsste, dass er in jedem Moment alles über sie weiß?

Wir lachten viel an diesem Vormittag; lästerten über die schon damals nicht endende Schwemme an Regionalkrimis. Dort tummelten sich nicht die schlechtesten Autoren, sagte er und erzählte, dass er bei der Wasserschutzpolizei einen kenne, der ihm hin und wieder Details aus der Polizeiarbeit verrate. Etwa, dass sie eine Wasserleiche mit Stöcken ans Ufer schöben, wenn sie sie fänden, damit nicht sie sich darum kümmern müssen, sondern die „normale“ Polizei an Land. „Das darfst du aber nicht schreiben“, sagte er damals, und das tat ich auch nicht.

Und zum Abschied, als die Kaffeetassen leer und die meisten Fragen beantwortet waren, sagte er vergnügt: „Vielleicht schreibe ich noch mal eine Autobiografie – wo ich aber den größten Teil erfinde.“

Lou A. Probsthayn, Schriftsteller, Verleger und Literatur-Quickie-Veranstalter

„Immer, wenn er junge Literaten getroffen hat, wo er dachte, da muss geholfen werden, hat er es getan“

Nun wird noch einmal ein Buch von Gunter Gerlach erscheinen, eine Art Abschiedsbuch – denn Gerlach, der viele Jahre verlässlich pro Jahr einen, manchmal zwei Romane in die Welt schickte, ist dement. Keine Schreibwohnung gibt es mehr, in der er wochentags sitzt, um zum Wochenende in sein eigentliches Heim in Hamburg-Jenfeld am Stadtrand zu wechseln. Jetzt lebt er in einer Demenz-WG.

„Ein falsches Wort und du bist tot“ ist der Titel einer Sammlung mit 33 Kurzgeschichten, die sein langjähriger Freund, literarischer Weggefährte und nun Verleger Lou A. Probsthayn jetzt auf den Weg gebracht hat. „Was ich tunlichst vermeiden wollte, war, etwas posthum zu machen, ich mag posthum nicht“, sagt er. Es sollte ein gegenwärtiges Buch werden.

Finanziert hat er es durch ein Crowdfunding, knapp 140 Menschen haben gespendet. „Zum Glück hat Gunter noch wahrgenommen, dass dieses Buch erscheint, hat die Farbvariationen des Covers bestimmt und den Titel abgesegnet.“ Und er sagt: „Er nimmt Tag für Tag Abschied, und ich kann und darf ihn begleiten.“ Sagt: „Manchmal ist er sehr abwesend und manchmal ist er sehr anwesend, und ich erzähle ihm dann vom Leben.“

Einer der 33 Texte ist die Geschichte über einen Mann, dessen Freundin am liebsten in Kakao badet und nur Kakao trinkt. Es gibt eine Geschichte über einen Krimischriftsteller, der mangels literarischen Erfolgs bei der Presseabteilung der Polizei anfängt, denn die hat gerade ein ernstes Problem: Es gibt immer weniger Verbrechen, also müsste man Polizisten entlassen, es sei denn, man schmückt die weniger werdenden Kriminalfälle so detailreich aus, dass die Leute weiterhin Angst haben und mehr Polizisten fordern.

Und es gibt die Geschichte von einem Mann, der seine Wohnung aufschließt, aber da wohnt schon jemand, ein Fremder, der ihn gut zu kennen scheint, und unser Mann denkt: „Möglicherweise ist jetzt genau das passiert, was ich immer befürchte: Ich bin dement, habe Alzheimer oder einen anderen Morbus-Dings im Kopf. Als Schriftsteller wäre ich damit erledigt.“

„Ich wollte noch mal auf seine Anfänge hinweisen, auf das Groteske, das seine ersten Romane und Texte haben; auf die surrealen Welten, in die man eintaucht“, sagt Probsthayn. „Ich habe sehr darauf geachtet, dass das Krimi-Sujet nur am Rande gestreift wird, denn wenn man sich an ihn erinnern möchte, sollte man sich an den Autoren erinnern, der er zwischen 1984 und 1989 war.“ Auch wenn er später hervorragende Krimis geschrieben habe, und er verweist auf Gerlachs Roman-Serie über einen hyperallergischen Amateur-Detektiv: von „Kortison“ über „Katzenhaar und Blütenstaub“ bis „Melodie der Bronchien“.

Begegnet sind sich Gerlach und Probsthayn Mitte der 1980er-Jahre: „Ich habe ihn in einem Lebensabschnitt kennengelernt, wo es mir monetär gesehen nicht so gut ging“, erzählt er. „Gunter ist alle vier Wochen vorbeigekommen, hat mir 500 Blatt Papier zum Schreiben vorbeigebracht, 500 Gramm Kaffee, dazu zwei Flaschen Wein und eine Stange Zigaretten – das war schon sehr nett.“

Es war eine nicht nur materielle, sondern mehr noch eine moralische Unterstützung, durchaus als Prinzip: „Immer, wenn er junge Literaten und auch wenn er junge Maler getroffen hat, wo er dachte, da muss geholfen werden, hat er es getan.“ Gerlach habe nie eine Gegenleistung erwartet – allenfalls, dass man gemeinsam neue Ideen entwickle – und umsetze.

1986 gründet sich so die Autorengruppe PENG, ein Akronym aus den Nachnamen der Hamburger Schriftsteller Lou A. Probsthayn, Reimer Eilers, Nicolas Nowak und Gunter Gerlach. Ihre Spezialität: Lesungen jenseits weihevoller Hallen vor halbvollem Wasserglas.

Stattdessen klettern sie in den Alsterwiesen auf Bäume und lesen von oben herab auf die Leute. Sie lesen in den Kabinen von Peep-Shows auf der Reeperbahn, wo man für eine Minute Text eine Mark einwerfen muss. Sie lesen und betrinken sich dabei, wobei Probsthayn einräumt, dass man heute gut und gern geteilter Meinung darüber sein könne, ob das so eine gute Idee gewesen sei. Aber Spaß habe es gemacht.

Gunter Gerlach: „Ein falsches Wort und du bist tot“, Literatur-Quickie-Verlag 2021, 214 S., 19 Euro; E-Book 11,99 Euro.

Lesung: Sonntag, 13. 6., 17 Uhr, Literaturzentrum Hamburg, ausverkauft!

Später entwickeln Gerlach/Probsthayn den Literatur-Quickie, die kürzeste Lesung der Welt. 2007 als sonntägliche Nachmittagslesung in der Bar „439“ gestartet, gründet sich zwei Jahre später der gleichnamige Verlag, der bis heute kleine, quadratische Bücher verlegt, alle mit Kurzgeschichten. So gut wie alle Hamburger AutorInnen sind vertreten; die Liste reicht von Michael Weins über Katrin Seddig bis zu Karen Köhler; Juli Zeh und Friedrich Ani.

Anfangs managen sie den Verlag zu zweit, dann will Gerlach nur noch Autor sein, seit Anfang 2010 ist der Verlag allein in Probsthayns Händen, jüngst mit dem Deutschen Verlagspreis bedacht. Dazu kommen die Literatur-Quickie-Lesungen zu Kaffee und Kuchen, die sie lange abwechselnd moderieren – bis es nicht mehr geht. „Ich habe Gunter angeboten, die Reihe einzustellen, aber davon wollte er nichts wissen, sie sollte weiterleben.“

Und so wird es auch zum Buch eine Lesung geben, wie es zu seinen Büchern immer Lesungen gab, nur diesmal eben ohne ihn. „Ich möchte nicht, dass es eine Erinnerungslesung wird, wo alle Abschied nehmen; das kann jeder hinterher für sich tun“, sagt Probsthayn. Sondern es soll ein Spätnachmittag werden, an dem seine Figuren durch den Raum rauschen, den Halt verlieren und wiederfinden und überhaupt Dinge erleben, die alles von ihnen verlangen – und von uns auch.

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