Debütroman "Gegen die Welt": Verflucht sei Jericho
Die Schwachen und die Starken: Jan Brandts epischer Debütroman "Gegen die Welt" ist eines der überraschendsten Bücher dieses Herbstes.
"Peter Peters hatte ihnen nichts getan. Er hatte niemandem etwas getan. Sie hatten ihn ausgewählt, weil er ihnen am wenigsten Widerstand entgegensetzen würde." Daniel Kuper und seine Freunde nennen Peter Peters wegen seiner hohen Stirn "Penis". Sie passen den Bauernjungen ab und schleppen ihn zu einer Kuhtränke, um ihn zu "taufen".
Seinen Eltern, die ihn später mit blutüberströmtem Gesicht zum Arzt bringen, sagt er, er sei gestürzt. "Von da an sahen die Leute Peter Peters als einen an, der gefallen war und wieder fallen würde." Sein Schicksal ist besiegelt. Im Dorf gelten archaische Regeln.
"Gegen die Welt" heißt Jan Brandts Romandebüt. Es ist eines der überraschendsten Bücher dieses Herbstes. Das 921 Seiten lange Epos spannt sich von der Mitte der Achtzigerjahre bis ins Heute. Es erzählt aus dem Herzen Deutschlands, der Provinz. Sie ist ein Ort der Finsternis. Der Name dieses Orts ist Jericho.
Dass Jan Brandt, 1974 in Leer geboren, sich in diesem fiktiven ostfriesischen Kaff, mit seinen Teenagern, Vätern und Müttern bestens auskennt, ist dem Leser schnell klar. Wer wie er aus der Provinz stammt, wird alles wiedererkennen: die Mädchen und Jungs, die sich sinnlos betrinken und kiffen, bis der Arzt kommt.
Die rebellischen Girls mit Anarcho-Appeal und Sinead-OConnor-Glatze, die sich am Ende doch der Macht an den Hals werfen. Die jungen Machos, die sich rücksichtslos gegen alle richten, die schwächer sind. Die jungen Damen aus gutem Hause, die noch nie ein Scheitern erlebt haben und auf ihrem Lebensweg auch keines erwarten.
Protagonist Kupper fürchtet nichts mehr, als uncool zu sein
Brandt erzählt seine Geschichte aus vielen Perspektiven. Er erzählt sie im lakonischen Heavy-Metal-Sound seiner Protagonisten, die nichts mehr fürchten, als uncool zu sein, aus der Rolle zu fallen. Das Zentrum seiner Geschichte bilden die Erlebnisse Daniel Kupers, der ein absolut passiver Charakter ist.
Diesen und weitere spannende Artikel lesen Sie in der nächsten sonntaz vom 24./25. September 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Daniel Kuper versucht, im Einklang mit der Welt zu sein, zu sein wie die Mitschüler, die auf den Partys das Sagen haben, wie die Mitschülerin, die bei "Wetten, dass ..?" auftritt. Es klappt aber nicht. Wenn er doch einmal etwas tut, fallen die Folgen seines Tuns mit einer alttestamentlichen Gewalt auf ihn zurück.
Daniel ist der Sohn des stets im weißen Kittel gewandeten Drogisten Hard Kuper, eines modernen Schamanen, der den Frauen von Jericho Parfüms und die Wundermittelchen seines verstorbenen Vaters verkauft. Er ist ein Mann, der es zu nichts gebracht hat, obwohl er sich stetig am Netz dörflicher Abhängigkeiten abarbeitet. Er singt im Gesangsverein, er liebt das Leben und die Frauen (soweit ihm das möglich ist), und er betreibt ein illegales Wettbüro. Manchmal erzählt er Witze: "Was heißt Gruppensex auf Türkisch? Kümmelgetümmel." Daniels Mutter ist Hausfrau, die nie ihre wöchentliche "Dallas"-Folge verpasst.
All das ist authentisch und glaubwürdig beschrieben: die Musik, die gehört wird, die Zombiefilme, die es zu sehen gilt. Man verzeiht Jan Brandt dafür die Anachronismen, die auch das Lektorat übersehen hat. Dreißigjährige Frauen in der deutschen Provinz sprechen 1987 noch nicht von ihrem "Job". Jugendliche kommen nicht auf die Idee zu sagen, dass "etwas Sinn macht". Was ein Nerd ist, weiß keiner. Aber das tut der Wahrhaftigkeit der Darstellung keinen Abbruch.
Brandt zeigt die Enge und Kaputtheit dieser Gesellschaft, nicht ohne den finsteren, spätpubertären Heavy-Metal-Humor seiner Helden durchscheinen zu lassen. Man kennt die Formen ihres Widerstands gegen sichtbare und unsichtbare Hierarchien, gegen Klassenschranken, gegen das Unglück: Daniel Kuper und seine Freunde Rainer Pfeiffer, Stefan Reichert und Onno Kolthoff wehren sich gegen die Welt mit Thrash Metal und Grindcore. Sie hören Slayer, Metallica und Napalm Death. Bevor sie im Verlauf der Erzählung wieder auseinanderdriften, treten sie im Gymnasium unter dem Namen Kill Mister auf.
Peter Peters wird Opfer eine wahnsinnigen Bande
Wer sich gegen die Welt wehrt, an der er leidet, reproduziert hier aber nur den Wahnsinn, der in ihr haust. Peter Peters ist der Name des Opfers der Bande. Worin ihr individueller Wahnsinn besteht, zeigt sich bald. Der Speedfreak Rainer Pfeiffer bringt sich mit dem Auto um. Onno Kolthoff, der begnadete Schlagzeuger, arbeitet auf seinen finalen Auftritt hin. Das Mathegenie Stefan Reichert entwickelt ein Genserum, um sich und seine Freundin in unverwundbare Übermenschen zu verwandeln.
Daniel Kuper, der Vierte im Bunde, ist in zwei Skandale verwickelt, die Jericho erschüttern - sowohl das alte Dorf mit seinen Bauern und Kleinbürgern als auch die Neubausiedlung mit ihren Unternehmern, Ärzten und grünen Realschullehrern. Als Pubertierender stolpert Daniel Kuper eines Tages nur mit einem Handtuch bekleidet aus einem Kornkreis heraus. Sein Körper ist voller Wunden, er kann sich nicht daran erinnern, was ihm geschehen ist. Der Kornkreis zieht allerlei Verrückte und natürlich die Medien an.
Jahre später tauchen Graffiti mit rassistischen Sprüchen in Jericho auf. Daniel versucht sie zu übermalen, doch bald darauf erscheinen sie von Neuem, wofür er verantwortlich gemacht wird. Der nonchalant im Wahlkampf aus "Mein Kampf" zitierende Bauunternehmer Rosing dagegen bleibt unangefochten. Daniel Kuper kommen die Sprüche bekannt vor, die der Mann unters Volk bringt. Daniels Großmutter hat ihrem Enkel eine Kiste voller Bücher vermacht.
Neben einer Ausgabe von "Mein Kampf" gehört zum Vermächtnis eine von ihr verfasste Schrift mit dem Titel "Über die Aussichten einer operativen Therapie in gewissen Fällen von Masturbation jugendlicher männlicher Individuen". Die Großmutter gehörte den rabiat antisemitischen Deutschen Christen an, dem nationalsozialistischen Arm des deutschen Protestantismus.
Daniel nimmt als einziger die Nazigeister zur Kenntnis
Achtung, Pädagogen, hier kommen wir zum gesellschaftspolitischen Gehalt dieses ganz und gar undidaktischen Romans. Auch diese Botschaft trägt Jan Brandt so lakonisch wie nur irgend möglich vor, was sie umso wirkungsvoller macht: Daniel ist der Einzige, der die Nazigeister wirklich zur Kenntnis nimmt, die in Gestalt der Nacht für Nacht wiederkehrenden Parolen erscheinen.
Er versteht intuitiv, dass sie dem Wunsch nach Vergessen entspringen und zugleich die klammheimliche Überidentifikation mit der Nazigeschichte symbolisieren. In einer seiner Science-Fiction-Storys erklärt eine außerirdische Kampftermite: "Tausend Jahre Krieg kann niemand vergessen. Das Universum ist unser Feind. Alle Völker verachten uns, und wir verachten sie. Zwischen ihnen und uns steht eine Wand aus Blut."
"Gegen die Welt" zeigt - mit Blick auf die zweite Nachkriegsgeneration - einmal mehr, wie das schmutzige Geheimnis der Deutschen in den Alltag einbricht, wie das Verdrängte in allen denkbaren Formen zum Ausdruck kommt. Jan Brandt stellt die alte Frage, die alle angeht: Woher kommt das Böse? Seine Antwort: Das Böse hat seinen Ursprung in jenem Moment, in dem das Auseinderfallen von Selbstbild und Wirklichkeit nicht ausgehalten, sondern in Aggression gegen den Schwächeren verwandelt wird.
Man kann "Gegen die Welt" als so krasse wie unterhaltsame Erzählung über die Generation der heute Dreißig- bis Vierzigjährigen genießen. Man könnte aber auch auf die Idee kommen, "Gegen die Welt" als fiktionales Pendant zu Götz Alys "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" zu lesen: als Gegenentwurf zur üblichen Distanzierungsliteratur, die, statt von konkreten Menschen, ihren Motiven und Erinnerungen zu handeln, nur in Abstraktionen und Gleichnissen spricht und so die Verdrängung bloß verdoppelt, die neue Aggression produziert.
"Gegen die Welt" handelt von den Schwachen und den Starken, den Sensiblen und den Hartherzigen, denen mit Gewissen und denen ohne Skrupel. Es ist konsequent, dass so viele Figuren dieses Romans eine Obsession mit der Bibel haben. Alle im Dorf wissen, was darin über Jericho geschrieben steht: "Verflucht vor dem Herrn sei der Mann, der sich aufmacht und diese Stadt Jericho wiederaufbaut! Wenn er ihren Grund legt, das koste ihn seinen erstgeborenen Sohn, und wenn er ihre Tore setzt, das koste ihn seinen jüngsten Sohn!"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid