Debütalbum von „Drangsal“: Ein Disco-Wolpertinger
Auf seinem Debütalbum „Harieschaim“ huldigt Drangsal dem Sound der 80er-Postpunk-Jahre und spielt dabei in einer Liga mit alten Helden.
Will man den neuesten Hype des deutschen Pop verstehen, muss man zunächst ein Rätsel lösen: Was zur Hölle hat es mit „Harieschaim“ auf sich? „Harieschaim“ heißt das Debütalbum von Max Gruber, der sich als Künstler Drangsal nennt und der für den kleinen Hype – Musikmagazine, Blogs: alle so yeah – verantwortlich ist.
Die Lösung findet sich in der pfälzischen Provinz: Im Örtchen Herxheim bei Landau ist Max Gruber aufgewachsen; und Harieschaim hieß diese Stadt nahe der deutsch-französischen Grenze bei ihrer Gründung vor mehr als tausend Jahren. Hört man die zehn Tracks, die der 22-Jährige auf seinem Debüt versammelt, klingen sie deutlich weniger rätselhaft. Erste Erkenntnis: Mehr 80er-Disconeigung geht nicht – man findet sich mitten in einem blauschwarzen Kosmos von The Cure, Depeche Mode, New Order, Killing Joke und Billy Idol wieder. Die One-Man-Band Gruber huldigt diesem Sound bis ins kleinste Detail.
Zweite gewonnene Einsicht: Die Hittauglichkeit ist vorhanden, der einzige auf Deutsch gesungene Track, „Will ich nur dich“, ist etwa hochgradig tanzflächenkompatibel. Und drittens: „Harieschaim“ ist toll produziert – man lernt den straighten, laut „Pop!“ schreienden Sound, für den Markus Ganter (der schon mit Tocotronic, Casper etc. kollaborierte) verantwortlich ist, mit jedem Mal Hören mehr schätzen.
Die Frage, wie es denn bitteschön sein kann, dass derart wenig bis gar nicht originäre Musik so einen Wirbel entfachen kann, ist damit fast schon beantwortet. Denn: Ja, man denkt bei fast jedem Song: „Klingt ja genau wie …“ Aber man denkt eben auch im selben Atemzug: „Ist ja genauso gut wie …!“ Max Gruber, der sich den Namen „Drangsal“ neben zahlreichen anderen Tattoos auch gleich unter die Haut hat ritzen lassen, spielt in einer Liga mit seinen Helden. Und repräsentiert mit seinem Erscheinungsbild – posher Typ, neoexistenzialistischer Style – wohl auch ganz gut eine jüngere Szene, die Postpunk und Wave in die Popgegenwart übersetzt.
Berücksichtigt man dazu die Lyrics, in denen er etwa morbide Orte der deutschen Kriminalgeschichte („Hinterkaifeck“) aufsucht oder sich mit Fabelwesen („Wolpertinger“) beschäftigt, findet der inzwischen in Berlin lebende Musiker dann doch zu einer Sprache, die momentan in Deutschland solitär ist. Dass ein in den frühen 90ern geborener Musiker so tief in den 80ern versinkt, hängt wiederum mit dem rätselhaften „Harieschaim“ zusammen: Denn in jenem Herxheim führte Max Grubers Vater eine Kneipe, für die er immer Mixtapes zusammenstellte. Diese spielte er häufig seinem Sohn vor. Und der Sohn hat gut zugehört.
Drangsal: „Harieschaim“ (Caroline/Universal)
Live: 16. 5., Pfingst Open Air, Essen; 27. 5., Modular Festival, Augsburg; 28. 5., Immergut Festival, Neustrelitz
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