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DebatteWohin die Demokratie fällt

Mit Gewalt wollten die USA den Nahen Osten ganz nach ihren Vorstellungen formen. Ihr Pulver haben sie nun verschossen. Die Lage in der Region ist jetzt so offen wie nie.

N och nie war die Lage im Nahen Osten unberechenbarer als heute. Zugleich gilt: Nie war Europas Sicherheit abhängiger von den Ereignissen dort. Das trifft nicht nur zu auf den Palästinakonflikt nach dem politischen Abgang Ariel Scharons, der für die arabische Seite zumindest einen "bekannten Hardliner" darstellte. Das Ende seiner Amtszeit ist ein weiteres Beispiel dafür, dass nicht nur personell die alten Säulen der Region wanken, ohne dass sich bereits die Gestalt des Neuen abzeichnete. Nichts hat sich bisher grundlegend im Nahen Osten geändert, und doch befindet sich alles im Fluss.

Der Irakkrieg von 2003 bildete die Wasserscheide zu dieser Entwicklung. Washington rechtfertigte den Krieg damals auch mit einer neuen, "positiven Dominotheorie" für die arabische Welt. Doch statt den Irak in ein demokratisches Musterland zu verwandeln, das auf die ganze Gegend ausstrahlt, hat der Krieg die Region inzwischen in ein einziges unübersichtliches Minenfeld verwandelt.

Zu Beginn des Jahres 2006 präsentiert sich der Nahe Osten denn auch als eine Ansammlung äußerst wackliger Dominosteine, von denen niemand heute weiß, in welche Richtung sie am Ende fallen werden. Statt Demokratie exportiert der Irak heute Dschihadisten in seine Nachbarländer, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis diese "Rückkehrer aus dem Irak" auch international operieren. Noch weiß niemand, ob die Wahlen im Zweistromland nun den Anfang des Wiederaufbaus oder den Beginn des Bürgerkriegs markieren. Der würde sicherlich nicht an den Grenzen enden, sondern die gesamte Nachbarschaft in seinen Sog ziehen.

In Syrien haben die UN-Ermittler angekündigt, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zum Mordfall des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik al-Hariri persönlich verhören zu wollen. Gleichzeitig löst sich der Kitt, der das Regime in Damaskus über Jahrzehnte so sorgsam zusammengehalten hat. Der ehemalige Vizepräsident Abdul Halim Chaddam fordert die Syrer inzwischen offen zum Sturz Assads auf. Auch wenn sich die meisten Syrer ernsthafte politische Reformen wünschen, so haben sie doch Angst, dem selbstzerstörerischen Demokratisierungsbeispiel des Irak zu folgen.

Der Libanon selbst bleibt weiterhin paralysiert zwischen prosyrischen und antisyrischen Kräften. Seit den Zeiten des blutigen Bürgerkriegs war das Land politisch nicht mehr so gespalten. Der ursprüngliche Enthusiasmus der Zedernrevolution ist inzwischen, nach dem Abzug der Syrer, der Erkenntnis gewichen, dass viele Probleme des Landes hausgemacht sind.

Jordanien wartet unterdessen darauf, dass die heiligen Krieger aus dem Irak zurückkehren. Die Anschläge auf drei Hotels Ende letzten Jahres könnten sich als Vorboten dafür erweisen, was dem Königreich da noch bevorsteht. Das Jahr begann mit der temporären Schließung westlicher Botschaften - aus Angst, sie könnten zum Ziel neuer Attacken werden.

In Ägypten, dem bevölkerungsreichsten arabischen Staat, haben die Muslimbrüder derweil ihre Präsenz im Parlament bei den letzten Wahlen versechsfacht. Husni Mubarak oder die Islamisten, so lauten derzeit die beiden einzigen politischen Optionen an den Ufern des Nils. Autokratie oder Moscheeverein? Mubarak selbst ist nach dem Abgang Scharons der letzte regierende Dinosaurier der Region. Was nach ihm kommen wird, wagen nicht einmal die arabischen Kaffeesatzleser vorauszusagen.

Im Iran, der anderen Regionalmacht, regiert inzwischen zwar ein jüngerer, sogar demokratisch gewählter Präsident. Der erweist sich in seinen außenpolitischen Aussagen aber immer mehr als unkalkulierbar. Dass der Iran seine Raketen demnächst nun auch atomar bestücken könnte, bereitet nicht nur dem Westen, sondern auch den arabischen Nachbarn große Sorgen. Dass der Iran sich möglicherweise atomar zu bewaffnen sucht, entbehrt aus dessen Perspektive allerdings nicht einer gewissen Logik: Etwas eingekreist fühlt sich das Land durch die US-Truppen im benachbarten Irak und in Afghanistan, angesichts israelischer Atomwaffen und in der Nachbarschaft der beiden Atomrivalen Pakistan und Indien.

Das Beispiel Iran zeigt, wie sehr sich die Weltmacht USA in der Region militärisch und politisch verrannt hat. Im Irak hat sie bereits ihr Pulver verschossen. Militärisch kann sich die US-Regierung da kaum auf ein weiteres Abenteuer einlassen, zumal es schwierig sein dürfte, die Amerikaner von einem weiteren Feldzug zu überzeugen. Teheran selbst kann da auch ganz ohne die Aussicht auf einen atomaren Knopfdruck die Supermacht USA in ihre Schranken weisen. Es genügt der einfache Hinweis, dass die Iraner die Lage in den schiitisch dominierten Gebieten des Irak über Nacht eskalieren lassen können, wenn sie wollen. Ein schiitischer Aufstand aber würde die militärischen Kapazitäten der USA im Irak endgültig überfordern.

Erst der Irak, dann das syrische Regime, dann Saudi-Arabien und am Ende Ägypten - so, hatten es sich die Neokonservativen in Washington vorgestellt, würden die arabischen Regime eines nach dem anderen wie Dominosteine in Richtung Demokratie fallen. Diese Dominotheorie hat sich nur insofern als richtig erwiesen, als dass die Kausalitäten im Nahen Osten heute deutlicher sind denn je. Nur dass es nicht die Demokratie ist, sondern eine unberechenbare Instabilität, die ein Land nach dem andern erfasst.

Der Ausgang dieses Dominospiels bleibt ungewiss. Klar ist, dass eine Situation entstanden ist, die etwas Neues hervorbringen muss. Wie blutig die Geburt des Neuen sein wird, kann niemand vorhersagen. Bereits 1991 erlebte die Region einen wichtigen Einschnitt, als die US-Truppen intervenierten, um Kuwait von der irakischen Besatzung zu befreien, und sich dabei permanent am Golf etablierten. Wer hätte damals auch nur ahnen können, dass sich zehn Jahre später als eine Folge dieser Intervention der Anschlag vom 11. September 2001 ereignen würde? Ohne den Golfkrieg von 1991 wäre die Al-Qaida-Ideologie vom internationalen Dschihad gegen die "ungläubigen Kreuzfahrer", die damals in Saudi-Arabien ihre Basen aufschlugen, vielleicht niemals entstanden, zumindest hätte sie wohl nie so einen Nährboden gefunden

Der letzte Irakkrieg stellte jedoch einen wesentlich radikaleren Wendepunkt dar als der Golfkrieg 1991. Was wir heute erleben, sind die ersten bereits jetzt kaum kalkulierbaren Folgen des Versuchs der US-Regierung, die Region gewaltsam nach ihren Vorstellungen zu formen. Was uns in zehn Jahre bevorsteht, dafür sind heute noch nicht einmal die kühnsten Hollywooddrehbücher geschrieben.

Eine unberechenbare explosive, fast apokalyptische Mischung bestimmt heute den Nahen Osten. Dieser ist nicht nur die größte Tankstelle der Welt. Spätestens seit den Anschlägen in Madrid und London ist auch klar, dass auch Europa seine Zeche für die Instabilität im Nahen Osten zahlen muss. KARIM EL-GAWHARY

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Karim El-Gawhary
Auslandskorrespondent Ägypten
Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

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