Debatte zur ITB: Mehr Romantik, bitte!
Statt die Welt zu erfahren, fliegen wir in touristische Hotspots. Overtourism ist das Schlagwort für Einerlei statt Vielfalt.
Barcelona, Venedig, Paris, Berlin, Amsterdam, Dubrovnik, Mallorca – es klumpt: verstopfte Straßen, Plätze, Sehenswürdigkeiten. Es wird immer mehr gereist. Und die Bewohner der bereisten Orte sind entnervt. „Overtourism“ ist der heute immer mehr diskutierte Begriff für zu viele Touristen an einem Ort. Vor allem europäische Städte, aber auch andere touristische Highlight weltweit ächzen unter Touristenmassen und unter dem Ausverkauf ihrer Zentren durch Airbnb und Co.
Eine Zustand, hervorgerufen durch Billigflieger, Kreuzfahrtschiffe und Regierungen, die das Billigfliegerangebot auf Kosten der Steuerzahler und der Umwelt aufrechterhalten. Ein Flug ins überstrapazierte Barcelona kostet manchmal nur 25 Euro, so viel wie eine Pizza und ein Bier vor Ort. Ryanair setzt für die Zukunft sogar darauf, kostenlose Flüge anzubieten. Verdient wird an touristischen Zusatzdiensten.
Fliegen ist das Vehikel unserer Weltaneignung. Eine Erfolgsgeschichte: Seit Gründung der Lufthansa 1955 erobert sich das Fliegen einen immer größeren Anteil am Reisen: Jährliche Zuwachsraten von 3 bis 7 Prozent. Auf deutschen Flughäfen werden derzeit rund 200 Millionen Passagiere im Jahr befördert, dieses Reisevolumen soll sich bis 2035 verdoppeln. Weltweit steigen jedes Jahr rund 4 Milliarden Menschen in ein Flugzeug. Das ist rechnerisch mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Ständig schwirrt eine Flotte von über 20.000 Flugzeugen rund um den Globus.
Der touristische Blick
Fliegen ist auch das Vehikel unserer Weltwahrnehmung. Wir bewegen uns auf einer gut präparierten Oberfläche. Unser Blick ist touristisch auf lohnenswerte Ziele und Events gerichtet. Wir begeistern uns für Hotspots und „places to see before you die“. Land und Leute, das war gestern. Diese Ziele erreichen wir ohne großen Aufwand: Auch die entferntesten Distanzen werden heutzutage in Flugstunden berechnet.
Der Sozialwissenschaftler Hartmut Rosa schrieb in seiner Studie zur „Beschleunigung“ (2005) vom Schrumpfen: Gemessen an der Zeit, die heute zur Überbrückung der Distanzen benötigt wird, sei die Erde seit der industriellen Revolution auf ein Sechzigstel ihrer eigentlichen Größe geschrumpft. Heutzutage haben wir das Gefühl, dass New York gleich um die Ecke liegt. Ganz nah und jederzeit erreichbar. Small World.
Auf diese technisch vermittelte Weltwahrnehmung reagierte bereits 1956 der Philosoph Günter Anders („Die Antiquiertheit des Menschen“) mit seiner Technikkritik. Anders fragte, was die neue Technik mit uns anstellt. Ob wir unsere Weltwahrnehmung verändern, indem wir uns den technischen Möglichkeiten anpassen. Welchen Einfluss die Technik auf unser Weltverhältnis und unsere Psyche nimmt. Seine Kritik verunsicherte.
Damals saß alle Welt in den Startlöchern, um die Welt technisch auszubauen, zu kapitalisieren, zu globalisieren, aber Anders fragte , was mit uns Menschen passiert. Nur ein gutes Jahrzehnt zuvor hatte technischer Fortschritt zur Entwicklung und dem Abwurf der Hiroschima-Bombe geführt. Seither verstand sich Anders als Warner vor der Eigendynamik technologischen Denkens und einer Steigerungslogik, die uns in ihren Bann zieht und zur Herstellung von Produkten verführt, die uns als Menschen in jeder Hinsicht überfordern. Anders wurde Mitinitiator der Anti-AKW-Bewegung.
Am Tropf der Technik
Wo Rosa heute die Welt schrumpfen sieht, wenn Jung und Alt nur noch fliegen, sah Anders seinerzeit die Wege dieser Welt verschwinden – und mit den Wegen auch die Erfahrungen. Mit dem damals neuen Massenmedium Fernsehen, befürchtete er, würde unsere Beziehung zur Wirklichkeit ins Irreale kippen und die Menschen könnten zu „voyeurhaften Herrschern über Weltphantome“ mutieren.
Denn „es (gehört) zur Struktur des In der Welt-Seins (…), dass sich die Welt in konzentrischen Nähe- und Fernekreisen um den Menschen herum staffelt; und weil derjenige, dem alles gleichermaßen nah und fern ist, derjenige, den alles gleichermaßen angeht, entweder ein indifferenter Gott oder ein völlig denaturierter Mensch ist.“
Harter Stoff für Kultur- und Technikkritiker bis heute – aber seit der digitalen Revolution kein Thema mehr: Internet ist unser Leben geworden, das Handy in der Hand ist Normalität. Rund um die Uhr und rund um den Globus sind wir stets mit allen Phantomen der Welt verbunden. Wir sind online. Und hängen am Tropf der modernen Technik.
Sie gebietet über unser Dasein wie ein neuer kategorischer Imperativ. Touristische Hotspots, „places to go“, werden uns frei Haus geliefert, und weil wir an ihrer Herstellung selbst mitmischen, werden sie heute schneller und nachhaltiger kreiert, als eine konventionelle Werbemaschinerie sich das ausdenken könnte. Wir brauchen nur noch zu entscheiden, was uns gefällt, welche Reisemodule wir wählen – und zu buchen.
Nur eines interessiert in diesem rasenden Weltverhältnis nicht: die Wege, die zu den Hotspots führen, und die Menschen, die die Regionen zwischen den Hotspots bevölkern. Sie müssen möglichst fix und reibungslos überwunden werden.
Der Soziologe Andreas Reckwitz macht als Träger dieser Beschleunigung eine neue Mittelschicht aus: Kosmopoliten mit einer „Kultur der Diversität, der Märkte und der Selbstentfaltung“. Man versteht sich als Avantgarde, als eine hybride, multikulturelle Weltgemeinschaft, die auf dem Markt der kulturellen Güter zueinanderfindet – egal ob in Berlin, Mumbai oder New York. Als Medium dieser internationalen Vergemeinschaftung gilt ein spezifisches Kulturverständnis: Sofern er, sie oder es der Selbstentfaltung und Selbstoptimierung dient, ist alles und jeder willkommen. Und was willkommen ist, das ist ein „Must“ – wie der vegane Burger in allen urbanen Hotspots dieser Welt.
„Hyperkultur“ sagt Reckwitz dazu. Selbst in Bezug auf Ethik und Moral. Man verstehe sich als vorbildlich für alle anderen, als Speerspitze einer schönen neuen Welt. Gerade im Tourismus, wichtigster Motor und Globalisierer der ersten Stunde, versucht die neue urbane Mittelschichtszene ihr Weltverständnis zu realisieren, noch schneller und oberflächlicher auf dem Globus unterwegs zu sein als andere Generationen vor und andere gesellschaftliche Milieus neben ihr.
Korrumpierte Wahrnehmung
Sie unterliegt so den Steigerungszwängen der Kapitalverwertung. Den urbanen, mobilen, weltoffenen Berliner Mittelschichtsmilieus ist jedenfalls New York näher als Cottbus. Trotz Dauerdiskussionen über Klimaschäden, die das Fliegen mit sich bringt.
Unsere Wahrnehmung ist korrumpiert und scheinbar alternativlos. Die Besteuerung von Flugbenzin ist ins Reich des Irrealen verdrängt, wenn alle Welt immer mehr fliegt. Sie steht auf keiner politischen Agenda mehr. Der Billigflieger gehört zum Konzept, ja, er ist der Garant der beschleunigten Weltaneignung. Denn der Tourismus von heute bewegt sich auf seiner eigenen, selbst geschaffenen Topografie, die wie eine glänzende Folie die Welt umspannt.
Aber darunter brodelt es: Es gibt Widerstand von Stadtbewohnern gegen zu viele Touristen, von Einheimischen gegen Bevormundung und die Zerstörung gewachsener Strukturen und Heimatverlust. Es gibt Einspruch von Umweltengagierten, die den Ressourcenverbrauch und Emissionsausstoß des ungebremsten Wachstumssektors Tourismus beklagen.
Es gibt die Gegenbewegung
Es gab und gibt immer wieder Versuche, die Wege und Zwischenräume zu rehabilitieren: Sanfter Tourismus und Konzepte von Nachhaltigkeit sind hier die Stichworte und vor allem regionale Entwicklung im Zusammenhang mit internationalen Naturschutzkonzepten. Die Verteidiger der Zwischenräume formulieren Ansprüche.
Es ist kein Wunder, dass momentan über Heimat gestritten wird. Der populäre Diskurs über die Heimat boomt, meint die Soziologin Cornelia Koppetsch: „Die Idee der Heimat befindet sich gewissermaßen am mentalen Verkehrsknotenpunkt von Globalisierung, romantischem Neokonservatismus und neuen politischen und gesellschaftlichen Konfliktlinien“, schreibt sie. In ihr verknüpften sich die drängendsten Probleme der Gegenwart: Herkunft, Bleiberecht, Migration und vor allem das Streben nach Zugehörigkeit, Stabilität und Vertrautheit.
Gern wird die Heimatorientierung im aktuellen Diskurs der mobilen Eliten als rückwärtsgewandt angesehen, denn die neoliberale Eigendynamik verlangt Ungebundenheit und Flexibilität auf allen Ebenen. Aber beschleunigte Mobilitätserfahrung bedeutet nicht nur Horizonterweiterung, sondern führt auch zu Verlustgefühlen. Es ist der Verlust von Zugehörigkeit, Eingebundensein und Identität.
Dramatisch findet Koppetsch ganz neu entstandene Frontstellungen: Es sei ein kaum zu überbrückender Graben zwischen konkurrierenden Gesellschafts- und Lebensauffassungen entstanden. Während sich Kosmopoliten und Hyperbewegliche in ihren Milieus heimisch fühlen, stehen „auf der anderen Seite jene, die zumeist weniger mobil sind, deutlich weniger Wahlmöglichkeiten hinsichtlich ihres Wohn-, Arbeits- oder Urlaubsortes haben“. Deren Identität beruhe auf Zugehörigkeit zu einem spezifischen Territorium, sei es eine Region, eine Nation oder ein spezifischer Ort. Hier existiere häufig die Vorstellung einer schicksalhaften Verbindung mit dem eigenen Ursprung, der zufolge der Mensch seine primäre Heimat nicht wählen könne, weil sie ihm zugefallen sei.
Die Abschottungsstrategien
Interessanterweise, so Koppetsch, verfolgten beide Parteien im Alltag ähnliche Abschottungsstrategien gegen die Zumutungen sozialen Wandels. Die „kosmopolitische Offenheit“ der urbanen Szene bewege sich nämlich „in engen Grenzen“. „Offenheit kann man sich leisten, weil man über wirkungsvolle Grenzanlagen verfügt: gentrifizierte Stadtteile, ein sozial und ethnisch hoch selektives Bildungswesen, Zugangsbeschränkungen in Form teurer Freizeiteinrichtungenn und Clubs. Die ökonomischen Privilegien schützen wirkungsvoll gegenüber unteren Schichten und Migranten.“ Wenn etwas vollständig homogen sei, dann die kosmopolitische Kultur der urbanen Mittelklasse, der Protagonisten der Beschleunigung.
Das gesellschaftliche Klima ist rau geworden. Die digitalen Kanäle sind voller Wut. Wenn, anthropologisch gesehen, Menschen grundsätzlich gewissheitsbedürftige und bestätigungssüchtige Wesen sind, dann werden die moderne Unruhe und Gereiztheit auch verständlich: Wo sich nichts Geringeres als unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit verändert hat und wir wie Marionetten an den Fäden unserer Internetverbindungen hängen, beschleunigen sich nicht nur die Verkehrsströme, sondern auch alle Ungewissheiten. Mit nervösen Folgen.
Beim Fliegen, dem schnellen Hüpfer vom Hier und Jetzt zum Dort, wird eine Illusion von Nähe und Gleichzeitigkeit genährt. Wir fliegen fort, um etwas anderes vorzufinden – aber wir sind schnell verärgert, wenn es nicht so ist wie zu Hause, wenn es unbequem wird und uns schlechte Gefühle macht. Die Ungleichzeitigkeiten sind uns am liebsten, wenn sie uns als Kulissen und Klischees einer schönen Fremde gegenübertreten.
Resonanz statt Heimatrhetorik
Wenn der Wissenschaftler Hartmut Rosa der Beschleunigung und dem paralysierenden Druck des rasanten sozialen Wandels sein Konzept der „Resonanz“ entgegensetzt, dann kommt er gänzlich ohne Heimatrhetorik aus. Rosa meint ein sinnliches, lebendiges, emotionales Verhältnis zur Welt. Einer Welt, in der ich mich aufgehoben und der ich mich zugehörig fühle.
Resonanz ist das Gegenteil von Beherrschen, Verdinglichen, Kontrollieren, sie erlaubt vielmehr Beziehungen und Begegnung mit Anderen, mit Orten, der Musik, der Natur, mit Bedingungen, die etwas „zum Schwingen bringen“. Dabei knüpft Rosa bewusst und provokativ am Programm der deutschen Romantik an.
Romantik hat als Erste die moderne Entfremdung thematisiert. Sie ging von einem ganzheitlichen Menschenbild aus, thematisierte Verkümmerung und Verödung im Zuge der beginnenden Industrialisierung. Noch vor Freud entdeckte sie das Unbewusste und die psychologische Kompliziertheit des Menschen. Ihr Credo war ein positiver, sinnlicher Weltbezug.
Wandern als Widerstand?
Der Zeit-Reporter Henning Sußebach hat sich mit Hartmut Rosa getroffen, bevor er im Spätsommer 2016 zu einer Deutschland-Wanderung von Nord nach Süd aufbrach. Und er macht eine Rechnung auf: Straßennetz, Siedlungs-, Verkehrs- und andere versiegelte Flächen zusammengenommen machen 6,2 Prozent des Landes aus, sie entsprechen der Größe von Rheinland-Pfalz. Eine „tote Fläche“, auf der er sich, ein Mann von Mitte vierzig, praktisch rund um die Uhr bewege. Sein normaler Alltag, so Sußebach, sei asphaltiert, die Bewegungsabläufe seien begradigt und alle scheinbar individuell gewählten Wege deckungsgleich mit dem Verkehrsnetz. Und vermutlich hätten sich bei ihm, einem Vertreter eines führenden, meinungsbildenden Qualitätsmediums, auch entsprechende „Denkrillen“ eingeschliffen. Als Lockerungsübung nahm sich Sußebach vor, die übrigen 93,8 Prozent des Landes zu erwandern.
Er startete am Darß und kam 50 Tage später auf der Zugspitze an. Sußebach berichtet von den Schwierigkeiten der Umstellung auf die durch Geografie und Natur vorgegebenen Bedingungen, auf die unerwarteten Kontakte und Gesprächspartner unterwegs, deren Lebensalltag und Denkweisen anderen Einflüssen und Bedingungen als dem ihm Vertrauten unterliegen. Sußebach ging durchs Land der Zwischenräume.
Ein Ergebnis seiner Recherche: Ob Althippies, Ökobauern, Schlachter, Maisbauern, AfD-Wähler, mittelständische Golfer, Schlosshotelbesitzer, die er kennenlernt – Sußebach muss feststellen, dass die Menschen der „ersten“ Geografie die destabilisierenden Folgen von Globalisierung und sozialen Verwerfungen direkter und existenzieller zu spüren bekommen als etwa Städter in den Schutzräumen ihrer Milieus.
Sußebachs Erkundung steht in der Tradition anderer Reisender, die sich die natürliche Geografie ausgesucht haben und sich auf manchmal schon vergessene Wege begeben haben. Widerstand durch Wandern? Ob beispielsweise Wolfgang Büscher (Berlin–Moskau) oder Sylvain Tesson (Frankreich) oder Henning Sußebach (Deutschland), sie alle brachten spannende und wirklichkeitsgesättigte Reiseberichte mit.
Sich einlassen, hinschauen, Wirklichkeit aushalten, Begegnungen zulassen, vor allem andere Wege einschlagen statt von einem angesagten Hotspot zum nächsten zu jetten.
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