Debatte um soziale Kürzungen: „Das war eine grob irreführende Aussage von Herrn Merz“
Joachim Rock vom Paritätischen Wohlfahrtsverband fordert Reformen, um den Sozialstaat nachhaltig zu finanzieren. Mit Umverteilung könne das gelingen.

taz: Herr Rock, ist der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar?
Joachim Rock: Das war eine grob irreführende und falsche Aussage von Herrn Merz. Wir haben keine überdurchschnittliche Kostensteigerung im Sozialstaat. Generell ist der Sozialstaat keine Luxusveranstaltung, sondern erbringt grundlegende Leistungen für die gesamte Bevölkerung. Übrigens hat die Bundesregierung selbst gerade mit Recht eine Leistungsverbesserung beschlossen, die weitere Milliarden Ausgaben erfordert, nämliche die sogenannte Mütterrente.
taz: Von einem Bankrott des Sozialstaats kann Ihrer Ansicht nach also keine Rede sein.
Rock: Ich befürchte, dass die pauschalen Androhungen von Herrn Merz zu großer Unsicherheit in der Bevölkerung beitragen. Zum Beispiel darüber, ob die Rente noch finanziert wird. Damit droht die ohnehin schon große Verunsicherung noch mehr Fuß zu fassen, das finde ich fatal.
taz: Welche Reformen wären Ihrer Meinung nach nötig, um einen stabilen Sozialstaat zu finanzieren?
Rock: Wir müssen gerade auch die Leistungsfähigen stärker zur Finanzierung heranziehen, die Leistungen müssen auf breite Schultern verteilt werden. Die Sozialversicherungsbeiträge belasten aktuell insbesondere Erwerbstätige über Löhne und Gehälter. Andere Einkommen, zum Beispiel aus Vermietung oder Kapitalanlagen, spielen bei der Finanzierung der Sozialversicherung keine Rolle. Dabei machen diese Einnahmen rund ein Drittel des gesamten Volkseinkommens aus. Wäre dieses Einkommen einbezogen, könnte man die Versicherungsbeiträge senken und die Leistungen verbessern.
taz: Wie sähe das konkret aus?
Rock: Für die Krankenversicherung fordert der Paritätische Gesamtverband zum Beispiel eine Bürgerversicherung. Die würde das Zwei-Klassen-System aus privater und gesetzlicher Krankenversicherung überwinden, bei dem sich ausgerechnet die Leistungsfähigsten und Reichsten herausziehen können. Wir wollen ein einheitliches Modell für alle Erwerbstätigen, das alle Einkommen berücksichtigt. Darüber hinaus sind wir der festen Überzeugung, dass man gerade Erbschaften und hohe Vermögen stärker an der Finanzierung des Sozialstaates beteiligen sollte, zum Beispiel durch eine deutlich höhere Erbschaftssteuer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Robert Habeck tritt ab
„Ich will nicht wie ein Gespenst über die Flure laufen“
Berlins neuste A100-Verlängerung
Vorfahrt für die menschenfeindliche Stadt
Kritik am Selbstbestimmungsgesetz
Kalkulierter Angriff
Mikrofeminismus
Was tun gegen halbnackte Biker?
Buchmarkt
Wer kann sich das Lesen leisten?
Aufnahme von Kindern aus Gaza
Auch Hamburg will human sein