Debatte um autofiktionale Romane: Zählt nur noch die Authentizität?
Bevor das neue Literaturjahr so richtig losgeht: ein Versuch, etwas Unordnung in die Debatte über den Erfolg der Autofiktion zu bringen.
Eigentlich gibt es – konnte man neulich mal wieder denken, als sich viele Beobachter über die erste Folge der neuen Literatursendung „Studio Orange“ von Sophie Passmann so überschäumend aufregten – das Bedürfnis nach zwei ganz unterschiedlichen Literaturformaten.
Nach einem, das man gern schaut, weil man sich in ihm gut über Neuerscheinungen informieren, über produktive Gedanken freuen und sein Literaturenthusiasmus intelligent gespiegelt sehen kann. Das war die erste Folge von „Studio Orange“ dezidiert nicht, die Sendung ist danach aber immerhin besser geworden.
Es gibt aber auch das klammheimliche Bedürfnis nach einem Format, das man gar nicht gern, vielleicht sogar dezidiert auf gar keinen Fall sieht – über das man sich aber wunderbar empören und über diese Empörung gut mit anderen Menschen ins Gespräch kommen und sich darin des eigenen, besseren, kulturaffineren Geschmacks versichern kann.
Dieses Schema gibt es auch bei den Büchern selbst. Man liest Clemens Setz und auf keinen Fall den neuen Roman von Juli Zeh (oder andersherum). Man liest wiederentdeckte Autorinnen wie Tove Ditlevsen und auf keinen Fall Heinz Strunk. Eine Schwärmerei für das eine geht tatsächlich oft mit einer Abwertung des anderen einher (literarische Beobachter wie Maxim Biller bespielen dieses Schema sehr ausdrucksstark).
Nobelpreis, Buchpreis, Büchnerpreis
Wobei längst erstens zu fragen wäre, ob so eine binäre Sicht überhaupt noch in die komplizierter gewordene Gegenwart passt. Und zweitens, ob die von so einem Dualismus grundierten Literaturdebatten nicht von ihrer Ausrichtung her prinzipiell viel zu ordentlich geraten. Jetzt bei den aufflackernden Diskussionen rund um den aktuellen Erfolg der Autofiktion zum Beispiel.
Tatsächlich ist es wohl gut, nun am Beginn des neuen Jahres einmal dem nachzugehen, was da im vergangenen Jahr passiert ist. Um nur die großen Literaturpreise zu nennen: Nobelpreis für Annie Ernaux, Deutscher Buchpreis für Kim de l’Horizon und, wenn man einen weiten Begriff von Autofiktion ansetzt, Georg-Büchner-Preis sowie Schillerpreis für Emine Sevgi Özdamar.
Das ist ein beeindruckender Durchmarsch. Der viele Beobachter irritiert und zu Verteidigungen des Fiktiven und Literarischen herausfordert. Verbunden allerdings mit dem Ergebnis, dass die Autofiktion allzu pauschal den Bereichen des Inhaltlichen und Thematischen, wenn nicht gleich des gesellschaftlichen Aktivismus zugeschlagen und dagegen ebenso pauschal die Fiktion und damit die Arbeit an Form und Sprache hochgehalten wird.
Autofiktion wird als Moralisierung verstanden und dagegen die Kunst des Erzählens ausgespielt. Doch so eindeutig ist es nicht. Denn die Autofiktion ist keineswegs von außen als Trend oder Mode über den Literaturbetrieb gekommen.
Die Rolle von #MeToo
Man muss wohl aufpassen, dass man sie nicht zu nah an gesellschaftliche Bewegungen wie #MeToo und Blacklivesmatter heranrückt, mit denen sie andererseits aber selbstverständlich etwas zu tun. Diese Bewegungen haben sich seit Mitte der Zehner Jahre aus ihren spezifischen Kontexten (Prozess gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein, Ermordung des Schwarzen George Floyd durch einen Polizisten) gelöst und erweitert zur großen Infragestellung von Sätzen wie: „Nun stell dich doch nicht so an“ oder „Damit musst du dich abfinden, das ist eben so.“
Im Zuge der Solidarisierung mit diesen Protesten wuchs das Interesse an detaillierten Beschreibungen davon, wie in unseren Gesellschaften mit den Einzelnen tatsächlich umgegangen wurde und wird, nicht nur im Showbusiness und in den Gettos, sondern auch in den Familien, den Betrieben, den Schulen und Universitäten, im Alltag. Und selbstverständlich spielt dieses Interesse für den Erfolg der Autofiktion eine Rolle.
Doch damit geht die Autofiktion keineswegs im Aktionismus auf. Wenn man einmal von ganz weit weg drauf sieht, kann man eher vielleicht sogar feststellen, dass beide, die Autofiktion wie die Protestbewegungen, Ausdrücke eines gesteigerten Selbstbewusstseins der Einzelnen sind. So möchte man nicht mit sich umgehen lassen und registriert genau, wie vorangegangene Generationen und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen mit sich umgehen lassen mussten. Dass die inzwischen eingeübten neuen Ausdrucksformen der sozialen Medien ständig neues Debattenfutter brauchen, spielt dabei auch eine Rolle.
Die Arbeit des Lebens
Damit aber wurden Tendenzen an die Oberfläche gepusht, die im Literaturbetrieb schon seit langer Zeit bereitlagen. Was heute Autofiktion heißt, trat spätestens mit den Grundmodernisierungen des Gesellschaft in den sechziger Jahren unter dem Begriff der Erfahrung an. Dieter Wellershoff ging autobiografisch der „Arbeit des Lebens“ nach. Niemand anderes als Peter Handke publizierte 1972 in seiner Muttererzählung „Wunschloses Unglück“ einen Klassiker des Autofiktionalen.
Im Umfeld des Essayisten Michael Rutschky setzte man auf „Erfahrungshunger“ und experimentierte für Bücher, die sich zwischen Fiktion und Sachbuch nicht klar entscheiden wollen, mit Bezeichnungen wie „Bücher ohne Familiennamen“ oder „Creative Non-Fiction“ oder auch mit Übernahmen des amerikanischen Begriffs des Memoirs. Der US-Autor David Shields aktualisierte das 2010 mit der Wendung „Reality Hunger“ und so weiter.
Das literarische Interesse dieser Traditionslinien ging dahin, den gesellschaftlichen Entwicklungen und den Bedingungen des eigenen Erlebens eben nicht aus der Perspektive politischer Allgemeinbegriffe nachzugehen, wie es die Achtundsechziger taten, sondern konkret aus den alltäglichen Erfahrungen heraus, aber eben durchaus mit analytischem Blick.
Unbehagen am realistischen Erzählen
Verbunden war das mit einem Gefühl des Unbehagens an den eingeführten literarischen Formen des realistischen Erzählens. Das lakonische „Er sagte – sie sagte“ à la Hemingway, das von Flaubert herrührende auktoriale Verstecken in den vom Fühlen der Figuren her gefärbten Beschreibungen, das hatte sich, so etwa die Analyse des einflussreichen US-Literaturkritikers James Wood, längst verselbstständigt. Es hat sich gewissermaßen totgesiegt, bis hin zu den berühmt-berüchtigten erzählerischen Einstiegen von Spiegel-Reportagen.
James Wood war es, der den Autor Karl-Ove Knausgård in den USA durchgesetzt hat, dessen sechsbändige „Min Kamp“-Reihe den Einbruch der Autofiktion in den Mainstream einläutete, bevor dann Didier Eribon und vor allem Annie Ernaux kamen und so breiten Erfolg für ihre sezierende Sprache solcher Phänomene wie Scham und Klassismus gefunden haben.
Was Knausgård betrifft, so kann man gegenüber seinem autobiografischen Projekt als Ganzem Unbehagen empfinden. Die letzten Bücher der Reihe sind einfach zu hastig geschrieben, und es gibt berechtigte Zweifel daran, ob der Umgang mit der zerbrechenden Beziehung zu seiner damaligen Frau noch irgendwie okay ist. Doch das ändert nichts daran, dass die ersten Bände grandios sind und vor allem ihre Wucht innerhalb eines genuin literarischen Settings entfalteten: Im Vergleich zu den Bänden „Sterben“ und „Lieben“ sahen eingeführte Bemühungen einen, wie es heißt, „verdammt guten Roman“ zu schreiben, eine Zeitlang ziemlich alt aus.
Ernaux lebt vom Sound
Sobald man Autofiktion auf diese Weise nicht ausschließlich vom #MeToo-Protestpol her, sondern auch als Einsatz im Spiel der literarischen Formen begreift, wird die Gemengelage interessant unordentlich. Knausgård und Ernaux trennen Welten, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Ernaux lebt stark von ihrem kühl bohrenden Sound. Als weitere Spielart der Autofiktion wäre Sigrid Nunez zu nennen.
Die Art und Weise, wie sich in „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ der Roman eines Frauenlebens aus verschiedenen autobiografischen Essays zusammensetzt, ist auch formal aufregend. Kurz, statt das Fiktive pauschal gegen Autofiktion ins Spiel zu bringen, ist es an der Zeit, innerhalb des Felds des Autofiktionalen zu differenzieren.
Zumal die Autorinnen und Autoren längst auch wieder daran arbeiten, die klare Trennung der Bereiche aufzuheben. Kim de l’Horizon „Blutbuch“ etwa ist keineswegs ausschließlich autobiografisch zu lesen, es trägt auch romanhafte Züge und führt vor allem auch eine in Bezug auf literarische Formen reflexive Spur mit, indem es ganz unterschiedliche Schreibweisen darauf hin ausprobiert, wie weit sie in unsere Zeit passen.
In so einer schlauen Wendung wie „ins Förmchen goethen“ verbinden sich dann auch Formreflexion und Gesellschaftsanalyse. Wer in den aktuellen Literaturdebatten gegen die soziologische Seite der Autofiktion das utopische Potenzial der literarischen Form ausspielen möchte, sollte schon auch einmal über die Rolle nachdenken, die das Setzen auf Form in der klassisch bürgerlichen Literaturgesellschaft gespielt hat. Verbunden war sie, da hat Kim de l’Horizon einen Punkt, mit Affekt- und Begehrenskontrolle.
Keineswegs nur Soziologie
Was Autofiktion interessant macht, ist so keineswegs nur Soziologe oder die Artikulation virulenter Punkte um race, class und gender, sondern eben die implizite Reflexion literarischer Formen und die Verschiebungen, die sich damit ergeben. Und es gibt auch schon genuin literarische Romane, die nicht neben oder sogar gegen die Autofiktion geschrieben sind, sondern wie nach der autofiktionalen Wendung – die Impulse der Autofiktion aufnehmend und zugleich danach suchend, das literarische Spielbein wieder freizubekommen.
Auch wenn man Christian Krachts „Eurotrash“ nicht gar so epochal finden muss, wie viele Beobachter es tun, kann man doch feststellen, dass hier der Versuch unternommen wird, den Traumaplot und das Narrativ von der Aufarbeitung der Herkunft neu zu literarisieren. Und Martin Kordić legt in „Jahre mit Martha“, sozusagen mit dem Formbesteck der Autofiktion, eine komplett fiktive Form vor, von schwierigen Sozialaufstiegen und den feinen Unterschieden in unserer Gesellschaft zu erzählen.
Das Authentische und das Fiktive – diesen Gegensatz gibt es in den reinen Form eben wohl gar nicht; interessant sind die Vermischungen und Wechselbeziehungen. Und die guten Bücher – sowohl die ausgedachten wie die autofiktionalen – wissen das auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen