Roman der US-Autorin Sigrid Nunez: Im Lockdown mit Papagei

In einer unfreiwilligen WG bekommt das Älterwerden eine neue Dynamik – darum geht es im Roman „Die Verletzlichen“ von Sigrid Nunez.

Ein schwarzer Papagei vor schwarzem Hintergrund

Tiere sind wichtig bei Sigrid Nunez. In „Der Freund“ ging es um einen Hund, jetzt geht es um einen Papagei Foto: noa-mar/plainpicture

Dieser Roman erzählt keine Geschichte, vielmehr einen Zustand: In Sigrid Nunez’ neuem autofiktionalen Buch „Die Verletzlichen“ findet sich eine Universitätsdozentin und Schriftstellerin im Frühjahr 2020 in einem leergefegten New York wieder. Als eine der wenigen aus ihrem Bekanntenkreis harrt sie in den ersten Covid-19-Monaten in der Metropole aus. Wer es sich leisten kann, hat den amerikanischen Melting Pot der Pandemie verlassen, sich in ein Landhaus zurückgezogen oder in luxuriösen Penthouses verbarrikadiert.

Sich vor dem Virus zu schützen ist eben auch eine Klassenfrage: „‚Die Mittelschicht versteckt sich, während die Arbeiterklasse ihnen die Sachen bringt.‘ Eine andere Version: Weiße verstecken sich, während schwarze und braune Menschen ihnen die Sachen bringen.“

Für die Mittsechzigerin ist es ein Segen, dass die wohlhabende Freundin einer Freundin, die in Kalifornien bei ihrem Schwiegervater gestrandet ist, eine Sitterin für ihren anspruchsvollen Papagei sucht.

Nunez’ Erzählerin ahnt, dass so eine alltagsstrukturierende Aufgabe in der Isolation Trost spendet und Depressionen vorbeugt – also zieht sie kurzerhand in das Luxusapartment der Bekannten und findet Erfüllung darin, mit dem Ara namens Eureka Freundschaft zu schließen. Das Tier will nicht nur gefüttert werden, sondern vor allem unterhalten – Papageien sind intelligente Wesen, denen Langeweile zusetzen würde.

Tiere sind ihr Thema

Eine Win-win-Situation also. Eigentlich ist das fast alles, was in diesem Roman geschieht. Aber natürlich ereignen sich die eigentlichen Dinge unterhalb der Plot-Ebene. Nicht nur die Nähe zu einem Tier, sondern auch die Themen, die verhandelt werden, erinnern dabei an Nunez’ Erfolgsroman „Der Freund“.

„Die Verletzlichen“, der Titel spielt auf die vulnerable Gruppe von Menschen während der Pandemie an, ist ein geradezu kathartisches Buch. Es geht um das Erinnern. Das Ich erinnert sich an eine gerade verstorbene Freundin, an Gespräche, an die Kindheit. „I remember“ heißt ein Buch von Joe Brainard, das für die Erzählerin eine immense Bedeutung hat (vor einigen Jahren übrigens beim Verlag Walde und Graf in deutscher Übersetzung erschienen).

Sigrid Nunez: „Die Verletzlichen“. Aus dem Englischen von Anette Grube. Aufbau, Berlin 2024, 224 Seiten, 22 Euro

Wie überhaupt Bücher und Au­to­r:in­nen in „Die Verletzlichen“ die Sonden sind, mit denen tief in Themen wie Einsamkeit, Alter, Krankheit und Tod vorgedrungen wird – mit einem hellwachen, interessierten Blick, mit einer unabdingbaren Melancholie.

Von ­Georges Perec über Joan Didion bis zu Günter Grass reichen die Referenzen, ein Lexikon der Vergewisserung; aber auch die Suche nach Erlösung von der Ungewissheit. Wenn die Gegenwart ereignislos oder absurd wird – Donald Trump lügt sich gerade durch seine verheerende Regierungszeit –, übernimmt die Erinnerung. Die eigenen Archive werden nach und nach geöffnet und geplündert, um zu sehen, welche hilfreichen Entdeckungen darin zu machen sind.

Testosteron is all around

Das gelingt ganz gut, bis doch noch etwas geschieht, was die Erzählerin verstört, gar aus der Bahn wirft. Ein junger, gutaussehender, höchst privilegierter Collegestudent, der sich zunächst um den Papagei kümmern sollte, aber dann überstürzt abgereist war, kehrt in die Wohnung zurück. Er ist zu selbstsicher, beansprucht zu viel Raum, obwohl das Apartment mehr als genug Platz für zwei bieten würde. Testosteron is all around.

Eine Freundin, mit der die Erzählerin telefoniert, erkennt schneller als sie selbst, was das Problem ist: „Da lebst du in großer Nähe zu diesem sehr attraktiven, sehr sexy jungen Mann, eine unübersehbare Erinnerung an das, was du nicht mehr haben kannst, was du verloren hast, dieser aufregende Teil des Lebens, der jetzt hinter dir liegt und nie wiederkommt, und obwohl es nicht sein Fehler ist, gibst du ihm die Schuld.“

Durch die unfreiwillige Wohngemeinschaft bekommen das Denken und die Lage der Schriftstellerin noch einmal einen neuen Dreh und die Auseinandersetzung mit dem Älterwerden eine neue Dynamik. Möglicherweise gibt es sogar so etwas wie eine Läuterung oder zumindest ein Einverständnis mit dem Lauf der Dinge.

Aber das wird eher angedeutet, wie dieses kluge, zwischen Roman, Essay und Memoir oszillierende Buch ohnehin ein sehr subtiler Versuch ist, Außen- und Innenwelt in einer unvorstellbaren Situation behutsam abzubilden. Aufblitzende Anekdoten und Erinnerungsfragmente, Zweifel, Wirklichkeitsschock und Wirklichkeitsflucht erzeugen eine Erfahrung des Verlusts, die zugleich tröstliche Momente bereithält.

Gelungenes Buch zur Pandemie

Die Erzählerin steht außerhalb der Zeit – wie wir in der Pandemie alle aus unseren gewohnten Rhythmen geworfen waren –, um das Vergehen der Zeit nur umso drastischer wahrzunehmen. Die Genauigkeit der Selbstbefragung, der nüchterne, offene Ton, die Verwundbarkeit machen „Die Verletzlichen“, hervorragend übersetzt von Anette Grube, zum vielleicht gelungensten Buch, das bislang über die Coronajahre erschienen ist.

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