Debatte um Fan-Hymne von Nazi-Autor: Der FC St. Pauli bleibt herzlos
Ein Gutachten bestätigt, dass der Texter der Fanhymne „Das Herz von St. Pauli“ sich in den Dienst des NS-Regimes gestellt hatte.

„Ollig hat von seinen Handlungsoptionen keinen Gebrauch gemacht, um sich vom Nationalsozialismus abzugrenzen. Im Gegenteil: Selbst dort, wo er Gelegenheit gehabt hätte, sich der Vereinnahmung durch das Regime zu entziehen, entschied er sich in der Regel dazu, dieses aktiv zu unterstützen“, heißt es im Fazit des Gutachtens von Celina Albertz vom FC St. Pauli Museum und Peter Römer von der NS-Gedenkstätte Villa ten Hompel in Münster. Albertz hatte mit einem Podcast über Ollig eine Debatte unter den Fans des Vereins ausgelöst, die dazu geführt hatte, dass das gemeinschaftliche Singen des Liedes vor dem Anpfiff zunächst ausgesetzt wurde.
Ollig schrieb den Liedtext 1956 unter dem Pseudonym Arno Grillo, wie Albertz recherchierte. Da war er längst Lokalchef beim Hamburger Abendblatt, wo er später zum stellvertretenden Chefredakteur aufstieg. Doch vor Kriegsende hatte er sich in den Dienst des NS-Regimes gestellt.
Ollig war 1929 zu den rechtsnationalen Hamburger Nachrichten gegangen, deren Redaktion schon 1930 offen die NSDAP unterstützte. Als Pressereferent bei Shell brachte er die Konzernpublikationen ab 1933 auf stramme Parteilinie. Während des Krieges diente er als Kriegsberichter in einer Propagandakompanie. In dieser Position feierte er einerseits Wehrmacht und Führer, tat sich andererseits mit besonders entmenschlichenden Beschreibungen der osteuropäischen Kriegsgegner hervor.
Nach dem Krieg rekrutierte die britische Militärverwaltung ihn dennoch für die Tageszeitung Die Welt. Im nachfolgenden Entnazifizierungsverfahren versuchte Ollig, seine Rolle zu relativieren. So leugnete er etwa seine Urheberschaft eines in der Shell-Mitarbeiterzeitschrift erschienenen Artikels, in dem er Verschwörungsmythen rund um das Attentat von Georg Elser auf Hitler verbreitet hatte. Dieser trage irrtümlich sein Kürzel. Erfolglos: Die Prüfer kamen zu dem Urteil, Ollig sei für die demokratische Presse ungeeignet.
Nur der zunehmend nachlässigen Entnazifizierungspraxis verdankte er, dass er schließlich doch noch das Siegel „can be employed“ (kann angestellt werden) bekam. Bis zu seinem Tod 1982 habe Ollig seine Rolle im Nationalsozialismus nicht öffentlich reflektiert, schreiben Albertz und Römer in ihrem Gutachten.
Die von ihnen zusammengetragenen Fakten zeigten Wirkung: Mehrere Anhänger des Klubs sagten bei der Vorstellung vor einigen hundert Menschen im Ballsaal des Millerntorstadions, sie seien zu Beginn der Debatte um Ollig der Ansicht gewesen, man könne zwischen der problematischen Vergangenheit des Autors und seinem Werk trennen und Olligs Lied – zumal in der am Millerntor gespielten Punk-Version – weiterhin singen. Das habe sich aber im Lichte der historischen Erkenntnisse verändert, bei einigen sogar im Verlauf des Abends.
Wenig Zustimmung fand der Vorschlag, das „Herz von St. Pauli“ weiterhin zu singen, aber durch ein kraftvolles Bekenntnis zum Antifaschismus vorher und hinterher zu „rahmen“. Auch, die Melodie beizubehalten und mit einem neu zu dichtenden Text zu versehen, fanden nur wenige Fans überzeugend.
„Antifaschismus ist unbequem“
Für die große Mehrheit war klar: Olligs Lied kann ein antifaschistischer Verein nicht wieder spielen, auch wenn viele das persönlich bedauern. „Antifaschismus ist unbequem“, brachte es eine Frau auf den Punkt, „aber das hier ist die bequemste unbequeme Sache, die es geben kann. Es geht hier nur um ein Lied.“
Viele wünschten sich, dass ein neues Lied gesucht wird, sogar von einem FC-St.-Pauli-Songcontest war die Rede. Applaus bekam aber auch ein Fan, der sagte: „Ich finde Hymnen scheiße. Wir machen so vieles anders: Wir haben keinen Stadionnamen, keine hysterischen Moderatoren – warum müssen wir eine Stadionhymne haben?“
Entscheiden wird darüber nun das Präsidium des Vereins, bis Saisonbeginn. „Und dann steht es euch frei, uns dafür nicht wiederzuwählen“, sagte Präsident Oke Göttlich. Dass die Entscheidung lautet, „Das Herz von St. Pauli“ wieder zu spielen, ist nach diesem Abend weniger vorstellbar denn je.
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