Debatte über Schuldenbremse: Die deutsche Schuldenpolitik muss in die Werkstatt
Kaputte Gebäude, marode Brücken und überlastete Netze. Deutschlands Infrastruktur ruft nach einem Werkstatttermin – doch wer löst die Handbremse?

S chon nach ein paar Kilometern stinkt und qualmt es, wenn man beim Autofahren vergisst, die Handbremse zu lösen. Fährt man trotzdem weiter, drohen große Schäden an Bremsanlage und Hinterrädern. Dann hilft nur noch eins: Ab zur Werkstatt.
Was für Autos gilt, lässt sich auf die deutsche Wirtschaft übertragen. Seit drei Jahrzehnten fährt Deutschland mit angezogener Handbremse. Folglich stinkt und qualmt es: Brücken stürzen ein, Straßen sind marode, viele Gebäude sanierungsbedürftig. Die Stromnetze drohen zu überlasten, Jugendzentren müssen schließen – die Liste ließe sich fortsetzen. Die Bremskontrollleuchte blinkt rot, die deutsche Wirtschaft stottert.
Derweil sind Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände genervt, und im Ausland reibt man sich verwundert die Augen und fragt sich, warum der ausgeschiedene Finanzminister Christian Lindner so stolz darauf ist, die Handbremse dermaßen fest angezogen zu haben. Die Sache ist allerdings ähnlich wie bei der Autoreparatur: Je länger man wartet, desto teurer wird es. 400 Milliarden Euro muss Deutschland in den nächsten zehn Jahren zusätzlich investieren, um die Schäden zu reparieren, rechnet der Bundesverband der Industrie. Das Institut der deutschen Wirtschaft erhöht auf geschätzte 600 Milliarden, und das Dezernat Zukunft legt nochmal 200 Milliarden drauf. Das ist in jedem Fall weit mehr, als die aktuellen Regeln erlauben würden.
Was also tun? An Schrittgeschwindigkeit gewöhnen, den Stinkequalm weiter ignorieren und hoffen, dass die Schäden von alleine verschwinden? Oder die Schuldenregeln so ändern, dass man sich den Werkstatttermin leisten kann? Ich meine: Letzteres!
Du liest einen Text aus unserem Zukunfts-Ressort. Wenn Du Lust auf mehr positive Perspektiven hast, abonniere TEAM ZUKUNFT, den konstruktiven Newsletter zu Klima, Wissen, Utopien. Jeden Donnerstag bekommst du von uns eine Mail mit starken Gedanken für dich und den Planeten.
Mythos der nächsten Generation
Jeder Euro, der in moderne Infrastruktur fließt, ist ein gut angelegter Euro. Erstens, weil es die Wirtschaft produktiver macht. Zweitens, weil es das Leben lebenswerter macht. Drittens, weil es uns reicher macht. Schließlich fließt bei neuen Staatsschulden mehr Geld in die Wirtschaft, als über Steuern und Abgaben rausgezogen werden. Dass neue Schulden die nächste Generation nur benachteiligen, ist also ein Mythos. Die nächste Generation erbt vollere Bankkonten und modernere Infrastruktur. Win-win!
Benachteiligt wird die kommende Generation hingegen, wenn die Reparatur aufgeschoben wird. Nicht nur werden die Schäden größer und teurer, auch gibt es wegen der Alterung immer weniger Arbeitskräfte, die den Job erledigen könnten. Die Werkstätten schrumpfen in ihrer Kapazität. Je länger wir die Reparatur aufschieben, desto weniger Mechaniker stehen zur Verfügung, um das Land auf Vordermann zu bringen – während natürlich immer mehr Rentner finanziert werden müssen.
Aber nun zur guten Nachricht: Auch wenn Ex-Finanzminister Lindner sich mit Händen und Füßen gegen eine Reform gewehrt hat, dreht sich langsam die Stimmung in der Bevölkerung. Im neuesten ARD-Deutschlandtrend wollten erstmals weniger als die Hälfte der Befragten (48 Prozent) die Schuldenbremse in der jetzigen Form beibehalten. 45 Prozent waren für eine Reform – fast Gleichstand also. Und auch Friedrich Merz, der derzeit beste Chancen auf die nächste Kanzlerschaft hat, hat die Schuldenbremse neulich zu einer „technischen Frage“ degradiert. Immerhin ließe die sich leichter lösen. Zum Beispiel, indem man öffentliche Investitionen, Infrastruktur oder Sondervermögen von der Schuldenbremse ausklammert. Hauptsache, die Handbremse wird gelöst und das Land findet einen Werkstatttermin.
Lesen gegen das Patriarchat
Auf taz.de finden Sie eine unabhängige, progressive Stimme – frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ergebnis der Sondierungen
Auf dem Rücken der Schwächsten
Frauen und Krieg
Krieg bleibt männlich
Schwarz-rote Sondierungen abgeschlossen
Union und SPD wollen gemeinsam regieren
Vertreibung von Palästinensern
Amerikaner in Gaza
Schwarz-Rote Finanzen
Grüne in der Zwickmühle
Frau erzieht Mann
Mein bestmöglicher Mann