Debatte Zukunft Europas: Italien allein gelassen
Europaskeptiker und Fremdenfeinde regieren heute in Italien. Auch die EU hat das mit zu verantworten. Sie hat das Land im Stich gelassen.
Vor einem Jahr titelte die taz: „Grazie Italia“ – Danke, Italien. Während sich alle anderen EU-Staaten mit Klagen oder auch stillschweigend der Verantwortung für das Sterben im Mittelmeer entzogen, nahm Italien damals weiter die Ankommenden auf. Es tat dies – wenn auch zunehmend unwillig –, obwohl es vom Rest der EU konsequent im Stich gelassen wurde. Im taz-Kommentar zu dieser Titelseite hieß es: „Nicht auszudenken, wenn etwa eine Regierung wie die von Viktor Orbán für das Mittelmeer zuständig wäre.“
In etwa das ist jetzt der Fall. Die nach dem Brexit drittgrößte Volkswirtschaft der EU wird neuerdings von Rassisten mitregiert, die die EU ungefähr so sehr verachten wie die Migranten, die über das Meer kommen. Die Regierung von Lega und Cinque Stelle könnte nach der Griechenlandkrise und dem Brexit das dritte Desaster für die EU werden. Das hätte verhindert werden können.
Nach den Berlusconi-Jahren kamen mit den Sozialdemokraten Enrico Letta und Matteo Renzi Proeuropäer an die Macht. Sie vollzogen, jedenfalls in der Migrationspolitik, einen Bruch mit der Politik der Berlusconi-Allianz, die aus der postfaschistischen MSI und der rechten Lega Nord bestand. Deren Repräsentanten hatten unter anderem davon schwadroniert, mit „Kanonen“ auf Flüchtlingsboote schießen zu wollen. Dazu kam es nicht, aber das Sterbenlassen der Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer, das war ihr Programm.
Letta und Renzi änderten das. Erst schickte Italien Marineschiffe zur Rettung, dann kooperierte es im Großen und Ganzen mit den Seerettungs-NGOs. So kamen seit Anfang 2013 etwa 681.000 Flüchtlinge und Migranten in das Land. Ginge es in Europa gerecht zu, hätte sich Italien gemäß seiner Größe und Wirtschaftskraft – rund ein Neuntel der EU – um etwa 75.000 von ihnen kümmern müssen. In fünfeinhalb Jahren.
Wäre ein Bürgermeister unter diesen Umständen auf die Idee gekommen, Sitzblockaden oder gar einen Hungerstreik zu veranstalten, damit seine Kommune keine weiteren Flüchtlinge zugewiesen bekommt, man hätte ihn für einen Nazi gehalten oder für verrückt erklärt. Doch so konnten Politiker wie Simone Dall’Orto, der Lega-Nord-Bürgermeister von Traversetolo bei Parma, mit dem Finger auf die EU zeigen, wegen der Migranten mit Hungerstreik drohen – und viele andere Lokalpolitiker nahmen sich daran noch ein Beispiel.
Hilfe verweigert
Denn in Europa geht es nicht gerecht zu, nicht einmal ansatzweise. Das Recht der EU sagt: Diese 681.000 Flüchtlinge und Migranten sind Italiens Problem. Gewiss: Viele Flüchtlinge zogen einfach trotzdem weiter. Doch das Grundproblem, die fundamentale Unwucht im europäischen Asylsystem, blieb. Immer wieder hatte Rom die EU gedrängt, daran etwas zu ändern. Doch es stieß auf taube Ohren.
Es war – nicht nur, aber maßgeblich – Deutschland, das die Regeln für die Flüchtlingsverteilung durchgesetzt und lange verteidigt hatte. Die Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und Thomas de Maizière (CDU) haben Italien, auch als nach Deutschland kaum Flüchtlinge kamen – bis Mitte 2015 –, jedes Zugeständnis verweigert. Minister der Union, einer Partei, die sich der EU verpflichtet fühlt wie kaum eine andere, haben den Europaverächtern und den Rassisten Italiens so den Weg zur Macht mit geebnet.
Diesen Weg sind sie und der Rest der EU in vielen kleinen Schritten gegangen: als sie keinen Cent für die Triton-Mission bezahlen wollten zum Beispiel, jene monatlich 9 Millionen Euro teure, aber effektive Militärmission, die Italien 2013 aufgestellt hatte, um Schiffbrüchige vor Libyen zu retten; als Frankreich und die Schweiz die Grenzübergänge in Ventimiglia und Como abriegelten, damit keine Flüchtlinge mehr nach Norden ausreisen konnten; als Österreich in einer schrägen symbolischen Aktion erst Panzer in eine Kaserne nahe der Grenze zu Südtirol verlegte und dann die Züge aus Italien durch Soldaten kontrollieren ließ; als die EU Italien, das 2015 in echten Nöten steckte, versprach, mindestens 39.600 Flüchtlinge abzunehmen – und dann zweieinhalb Jahre brauchte, bis ganze 12.700 ausreisen durften.
7 der 28 EU-Staaten (Griechenland ausgeklammert) nahmen freiwillig keinen einzigen Flüchtling aus Italien. Dafür schoben viele Staaten immer wieder „Dublin“-Fälle in das überlastete Italien ab. Am schwersten aber wog die völlige Blockade jeder Reform der Dublin-Richtlinie. Auch Deutschland verhinderte diese, und zwar genau so lange, wie es selbst von dem System profitierte. Als sich das ab Ende 2015 änderte, entdeckte auch die Bundesregierung plötzlich ihren Sinn für europäische Lastenteilung. Aber da waren die Osteuropäer schon zu weit nach rechts gerückt.
Suche nach Auswegen
Italien nahm weiter Flüchtlinge auf, doch je länger es mit ihnen alleingelassen wurde, desto stärker setzte es auf Alleingänge – Deals mit Libyen, Tunesien, Ägypten, Niger oder dem Sudan. Die Verfolgung der Seenotrettungs-NGOs durch die Justiz oder die verzweifelte Drohung an die EU im vergangenen Sommer, seine Häfen für Flüchtlinge und Migranten zu schließen – nichts brachte Erfolg – substanzielle Hilfe kam nicht.
Der Rest Europas hat die Proeuropäer in Italien auf diese Weise verraten und geschwächt. Mehrfach haben hohe EU-Repräsentanten in den letzten Jahren bei Hintergrundgesprächen die EU-Strategie zum Umgang mit der Migration erklärt. Und immer dann, wenn die Frage aufkam, wie sie Italien zu entlasten gedenken, hieß es: Für alles, was dem Land wirklich helfen würde, gebe es eben „keine Mehrheit“. Jetzt gibt es in Italien keine Mehrheit mehr für die, die zur EU stehen.
Das Vertrauen, das nötig gewesen wäre, um Europa enger zusammenzubringen, hätte auf dem Feld der Migration durch kollektive Lastenteilung erarbeitet werden müssen. Der Preis wäre überschaubar gewesen. Das Gegenteil ist geschehen. Die Folge ist nun das Risiko eines weiteren Zerfalls der EU, der das einzigartige Generationenprojekt EU noch stärker verstümmeln könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben