Debatte USA: Wer ist der vierte Obama?

Es wird eng im Weißen Haus, denn drei Obamas teilen sich dort seit zwölf Monaten ein Büro. Und der Präsident ist dabei, sich noch mal neu zu erfinden.

Das Weiße Haus ist zu klein für Obama mit seinen Hunderten von Beamten. Franklin Roosevelts Mitarbeiterstab zu Zeiten des New Deal und des Kriegs war kleiner als der Stab der jetzigen First Lady. Allen voran dem Präsidenten selbst ist das Office zu klein, denn während er das erste Jahr seiner Amtszeit abschließt, sitzen dort drei Obamas.

Der erste ist der Obama aus Sicht der Republikaner. Die schlichten Gemüter, die kurz davorstehen, die Partei von den letzten zivilisierten Konservativen zu übernehmen, halten ihn für unrechtmäßig. Sie beharren darauf, dass er in Kenia geboren wurde und deshalb für das Amt des Präsidenten nicht wählbar sei. Als Muslim sei er zudem ein Fremder in einer christlichen Nation, als "Sozialist" versessen darauf, den privaten Sektor vollständig zu enteignen. Am Ende sei er Schwächling, der sich für die Bereitschaft der Nation entschuldigt, im Namen unserer offensichtlichen Tugenden Macht auszuüben.

Möglicherweise glaubt jeder vierte Amerikaner so etwas. Im Schulterschluss mit anderen, die ihren Unmut über Kultur und Wirtschaft äußern, bilden sie eine Front der Entrechteten. Die Wahl Obamas, von einer Koalition aus Afroamerikanern, Latinos, Frauen, jungen Leuten, Gewerkschaftern und Gebildeten ermöglicht, war zweifellos epochal. Im Moment aber gehört das neue Zeitalter erzürnten Weißen, die Menschen über sich ebenso hassen wie diejenigen unter sich.

1926 in New York geboren, lehrte als Professor für Soziologie an der Georgetown University und beriet Robert sowie Edward Kennedy. Er war Mitbegründer der New Left Review und ist im Redaktionsausschuss von The Nation.

Der zweite ist der Obama, wie ihn seine glühendsten und inzwischen enttäuschten Anhänger sehen: ein berechnender Politiker, der seine Prinzipien systematisch verrät. Vertreter der Wall Street hat er in wichtige wirtschaftliche Ämter berufen und für seine Gesundheitsreform nicht im Namen sozialer Gerechtigkeit, sondern einer klugen wirtschaftlichen Maßnahme geworben. Er akzeptiert den Vorrang der Senkung staatlicher Ausgaben vor der Ausweitung von Regierungsprogrammen, ob für Konjunkturprogramme oder zur Bekämpfung der wachsenden Ungleichheit. Er verkündet, das Land befinde sich im Krieg gegen den "Terror", de facto ist es die Fortsetzung von Bushs Krieg gegen den Islam. Er lässt die Generäle gewähren, als befehligten sie eine Besatzungsarmee. Das Militär bleibt relativ verschont von Etatbeschränkungen. Und nicht zuletzt wirkt Obama oft unnahbar, ein sagenumwobenes Land bewohnend, in dem Konsens herrscht und kein erbitterter Kampf.

Es gibt aber auch einen dritten Obama: den eigentlichen Präsidenten, der einem schweren Erbe und einem dysfunktionalen politischen System die Stirn bietet. Er führt den Vorsitz über eine zerstrittene Demokratische Partei, die nur über eine sehr kleine Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügt und über sechzig unsichere Stimmen im Senat, dem Minimum, um Gesetzesvorhaben durchzubringen. Die Legislative kann sich vor wirtschaftlichen, ethnischen, ideologischen und religiösen Lobbys nicht retten. Die Medien stellen sich in den Dienst systematischer Desinformation und Ignoranz. Außenpolitik und militärischer Apparat sind versiert darin, dem Präsidenten jede Freiheit abzusprechen, das träge amerikanische Imperium zu verändern, und sie gleichzeitig für die anhaltende Katastrophe, die unsere globale Präsenz darstellt, verantwortlich zu machen. Die Mehrheit der Amerikaner hält verbissen an zwei zentralen Glaubenssätzen fest: dass sie von allen Seiten betrogen und ausgenutzt werden, vor allem vom privaten Sektor und von den korrupten und verlogenen Politikern, und dass sie in dem "großartigsten Land der Welt" leben. Unter diesen Umständen fällt es einem Präsidenten äußerst schwer zu führen, vor allem, wenn seine Vorstellungen etwas komplexer sind und er für Veränderungen eintritt, die vorhandene Interessen bedrohen. Angesichts dieser Schwierigkeiten für vernünftiges politisches Handeln schneidet Obama gar nicht so schlecht ab. Sein Konjunkturprogramm hat die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahrt, und selbst mit einer nur kleinen Gesundheitsreform wird er einem weiteren gesellschaftlichen Zerfall vorbeugen. Seine Prioritäten sind höhere Investitionen in Bildung, Wissenschaft und soziale Infrastruktur, da er nach einem Kapitalismus mit sozialer Verantwortung trachtet, ein Projekt, das durch den Mangel an Kapitalisten mit sozialer Verantwortung erschwert wird. Immerhin gibt es Pläne, die Banken schärfer zu regulieren.

Indem er mit dem Iran verzwickte Verhandlungen aufgenommen und einen israelischen Angriff blockiert hat, hat er im Nahen Osten das totale Chaos verhindert und der iranischen Opposition Zeit verschafft. Er hat es gewagt, Israel zu kritisieren, auch wenn er bislang noch nicht ernsthaft Druck auf einen selbstzerstörerischen Satellitenstaat ausübt, dessen bedingungslose amerikanische Unterstützer nicht mehr mit der fraglosen Zustimmung von anderen Amerikanern rechnen können. Er ist einer Konfrontation mit China und Russland aus dem Weg gegangen und hat die Allianz mit Indien gefestigt. Was Lateinamerika angeht, so war er übervorsichtig und hat die Feindseligkeit gegenüber Kuba nicht aufgegeben. Ein großer Teil der informierten Öffentlichkeit hat die Nase voll von den unversöhnlichen kubanischen Exilanten. Es ist absurd, dass die USA normale Beziehungen zu Vietnam unterhalten, nicht jedoch zu Kuba. Abgesehen davon hat Obama erkannt, dass die Lateinamerikaner das Recht haben, sich selbst zu regieren.

In Umweltfragen bemüht er sich trotz öffentlicher Ignoranz und zynischer Opposition vonseiten des Kapitals um ein langfristiges Projekt. Von Europa hat er nichts gehört außer unterwürfigen Botschaften von Barroso und Rasmussen. Das Problem der Europäer ist auch das der US-Amerikaner: Uns hat das unabhängige Urteil von Fischer und Védrine, von Chirac und Schröder, de Gaulle, Brandt und Schmidt geholfen.

Niemand ist vorbereitet auf die Präsidentschaft - man denke nur daran, wie sehr der junge Präsident in einem Jahr gealtert ist. Doch seine Lernfähigkeit ist unverkennbar, und er wird sich von seinem momentanen Tief erholen. Dann werden wir einen vierten Obama zu sehen bekommen.

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