Debatte Suizidhilfe: Der doppelte Irrtum
Ärzte sollten nicht über den Tod von Menschen entscheiden, dafür fehlt jede Grundlage. Eine Antwort auf den Vorschlag des Kollegen de Ridder.
L ieber Herr Kollege de Ridder, wir sind überzeugt, dass Sie redlich versuchen, ein ethisches Dilemma zu lösen, das jeden Arzt betreffen kann. Dennoch müssen meine Kollegen und ich Ihrer Position, Ärzte sollten im Notfall Suizidhilfe leisten, klar widersprechen.
Wir sind selbst Palliativmediziner mit jahrzehntelanger Berufserfahrung, und jeder von uns hat Situationen erlebt, wie Sie sie beschreiben. Wir haben bisher nicht erlebt, dass der assistierte Suizid der einzige oder der richtige Weg gewesen wäre, unerträgliches Leiden zu lindern. Dennoch mag es Situationen geben, in denen ein Arzt nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten zu dem Ergebnis kommt, er könne einem Leidenden nur noch beistehen, indem er ihm zum Tod verhilft. Wir fühlen uns nicht berufen, über eine solche individuelle Gewissensentscheidung zu urteilen.
Aber aus eigener Erfahrung und den Beobachtungen etwa in den Niederlanden oder Oregon schließen wir, dass dies nur extreme Ausnahmefälle sein können, die nur in einer ganz besonderen, intim zu nennenden geistigen Beziehung zu dem leidenden Menschen moralisch vertretbar wären.
Sie treten dafür ein, solche extremen Entscheidungen zu einer öffentlich anerkannten, gesetzlich und berufsrechtlich geregelten Option zu machen. Wir halten dies für höchst gefährlich.
Wer genau will die Suizidhilfe?
Fragen wir als Erstes, wer eigentlich den Wunsch nach assistiertem Suizid äußert. In der großen Mehrzahl sind dies Patienten, die von der letzten Lebensphase noch weit entfernt sind und ihre Autonomie und deren befürchteten Verlust aus der Perspektive ihres bisherigen Lebens beurteilen. Ist die Situation aber tatsächlich da, wird selbst unter belastendsten äußeren Bedingungen dieser Wunsch nur noch äußerst selten geäußert und sogar ausdrücklich widerrufen.
Im Rahmen einer auch nur einigermaßen guten Palliativversorgung haben wir noch keinen Patienten erlebt, der seine letzte Lebensphase abkürzen wollte. Zudem haben die meisten zu Hause versorgten Palliativpatienten de facto Zugriff auf ausreichend tödliche Medikamente, ohne dass wir dort von Suiziden erfahren. Wie kommen Sie bei Ihrer reichhaltigen Erfahrung zu der Auffassung, dass die palliativmedizinischen Möglichkeiten nicht ausreichen sollten, Leiden effektiv zu lindern? Dies entspricht, bezieht man die intermittierende Sedierung mit ein, schlicht nicht den Tatsachen.
ist Chefarzt der Onkologie und Palliativmedizin am Klinikum Brandenburg und Privatdozent an der Berliner Charité. Diesen Kommentar hat er als Vorsitzender der Akademie für Palliative Care im Namen des Vorstands verfasst.
Wie intensiv setzen wir uns mit der Bedeutung eines Suizidwunsches auseinander? Ist er wirklich mit dem Todeswunsch gleichzusetzen? Enthält diese Äußerung nicht vielmehr stets die Fragen, wie viel und welches Leben denn – noch – möglich sei, sowie: Wie viel bin ich in meinem leidenden Zustand noch wert? Die Hilfe zum Suizid beantwortet diese letzte Frage eindeutig mit: nichts.
Dammbruch ist eine Gefahr
Die allerwenigsten Suizidversuche geschehen aus nüchterner bilanzierender Überlegung, über 90 Prozent dagegen aus einer psychischen Krise oder Erkrankung heraus, und die allerwenigsten Menschen, die einen Suizidversuch überstanden haben, unternehmen einen zweiten – wieso sollte dies bei terminal kranken Menschen anders sein?
In welcher Weise sehen Sie das „Dammbruchargument“ widerlegt? Die Zahl der berichteten Fälle nimmt in Oregon stetig zu, und die Dunkelziffer der Fälle, in denen angesichts der grundsätzlichen Anerkennung der ärztlich assistierte Suizid formlos und unerkannt stattfindet, ist nach seriösen Schätzungen hoch und ebenfalls steigend.
Letztlich findet der entscheidende Dammbruch aber da statt, wo die ethische Grenze weiter gesteckt wird. Wie steht es um Kinder, um Demente, um andere nicht Einwilligungsfähige? Auch für sie fordern Befürworter in Belgien bereits dieses „Recht“. Wo hören wir auf? Wer garantiert, dass die Schwerstleidenden immer noch eine aufwendige Palliativversorgung erhalten, wenn es doch einen anerkannten und viel billigeren anderen Weg gibt?
Für wie viele entsteht der Suizidwunsch daraus, dass sie in einem zunehmend ökonomisierten Gesundheitssystem einen Druck spüren, zumal wenn sie, wie so viele, keinen sorgenden Rückhalt in Familie oder Freundeskreis haben.
Dennoch: Es gibt Menschen, die im Leiden an einer terminalen Erkrankung den ernsten und frei entschiedenen Wunsch haben zu sterben. Der Respekt vor ihrer Freiheit verbietet, dies durch Repression zu verhindern. Aber weshalb sollte es einer anderen Person nicht nur zugestanden, sondern sogar geboten sein, diesen Willen umzusetzen, und weshalb sollte dies ausgerechnet ein Arzt sein?
Denn wer soll die Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches prüfen und wie? Auch das aufwendige Verfahren in Oregon ändert nichts daran, dass letztlich die persönlichen Wertsetzungen des Arztes und seine subjektive Vorstellung von „lebenswertem“ Leben und unerträglichem Leiden darüber entscheiden, ob er einen Suizidwunsch akzeptiert oder ablehnt.
Freiheit und Autonomie
Die Forderung nach dem ärztlich assistierten Suizid hat ihren Ursprung in einer sehr notwendigen Diskussion über Freiheit und Autonomie. Sie erliegt jedoch dem doppelten Irrtum, ein Arzt habe der Autonomie Vorrang vor der Unantastbarkeit des Lebensrechts einzuräumen, und er könne dabei neutraler Erfüllungsgehilfe sein.
Indem ein Arzt die Rolle des Suizidhelfers annimmt, macht er sich den Suizidwunsch dieses Patienten zu eigen und bestärkt ihn mit seiner Autorität – womöglich mehr, als jede andere Person dies könnte. Aber wie wollen wir in einer so verletzlichen Lebensphase den autonomen Willen des Patienten von den vermeintlichen oder tatsächlichen Erwartungen seiner Umwelt frei halten und unterscheiden?
Auch wenn wir überzeugt sind, dass dies Ihren Intentionen fernliegt, lieber Herr Kollege de Ridder: In diesem Irrtum bedeutet, was hier als Verteidigung von Freiheit und Autonomie daherkommt, dann eben doch unweigerlich, dass Ärzte über die Tötung von Menschen entscheiden, auch wenn sie es Selbsttötung nennen. Dies wäre eine grenzenlose Anmaßung und Zumutung zugleich und kann keine ärztliche Aufgabe sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation