Debatte Rechte Diskurshoheit: Vom Wohnen in der Defensive
Brexit, Xenophobie, Nationalismus und Abschottung: Die Linke hat den großen Erzählungen von rechts wenig entgegenzusetzen.
D er Brexit lässt sich, bei aller Unterschiedlichkeit, mit einem anderen großformatigen Ereignis vergleichen: als sich Hunderttausende von Flüchtenden im Sommer vergangenen Jahres über Grenzregularien hinwegsetzten. Zwei historische Momente, die unvorstellbar waren und nach herkömmlichen Kategorien auch ungeplant.
Die beiden Ereignisse stehen für die zwei großen verändernden Kräfte dieser Zeit: Im Fall der Flüchtlinge war es die schiere Not, die ihnen die Kraft verlieh, das (uns) Undenkbare zu vollbringen und sich Räume zu nehmen. Im Fall Brexit ist es die gegenläufige Kraft: Nationalismus, Abschottung.
Im Kontrast zu diesem großen Format steht die Kleingeistigkeit auf unserer Seite, nennen wir sie die Seite fortschrittlicher, auf Gerechtigkeit zielender Weltveränderung. Wir haben uns abgewöhnt, groß zu denken. Wir haben vergessen, dass man sich über den Status quo einfach hinwegsetzen kann. Die Utopisten von heute sind nicht wir, sondern jene, die aus purer Not handeln – oder von rechts kommen.
Wann hat es begonnen, dass sich so viele auf den Bänken der Schule für kleines Denken drängten? Es gab tatsächlich eine Erziehung zur Kleingeistigkeit und zum Kleinmut, ein beträchtlicher Teil meiner Generation hat sie durchlaufen. Die Grünen taten sich dabei als Hilfserzieher hervor: Wer als „erwachsen“ gelten wollte, wer ernst genommen werden wollte, möge sich so bescheiden, wie sie selbst es taten, und sich alles Radikale abseifen wie feuchte Traumspuren der Adoleszenz.
Rückzug ist keine Verteidigung
Das ist lange her, vergessen die Schulzeit, doch das Bildungsziel hat sich etabliert: Du darfst nicht einfach wollen, wünschen, träumen. Du brauchst ein konsensfähiges Konzept, einen Business-Plan, eine Machbarkeitsstudie. Alles muss durchgerechnet, durchkalkuliert, „gegenfinanziert“ sein. Welche Kita-Initiative würde es heute wagen, eine Eingabe an den Stadtrat zu machen, die so westentaschenmäßig unseriös vorbereitet ist wie der Brexit?
Wer ständig zurückweicht, kann das verbliebene Terrain immer schlechter verteidigen. Wer diese These bezweifelt, mag einen Moment auf den bedauernswerten Zustand der Sozialdemokratie blicken: Der Niedergang durch Utopie- und Fantasieverlust ist hier in konstanten Zahlen messbar.
Wir haben uns daran gewöhnt, in der Defensive zu wohnen, sie zu möblieren mit der stillen Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse, den Status quo. Aus einem Staatenbündnis austreten? Huch! Erinnert sich noch jemand, dass es einmal eine Debatte über den Austritt aus der Nato gab? Ein deutscher Austritt sollte ein Schritt zur Auflösung des Militärbündnisses sein; die eindeutig friedenspolitische Forderung wurde vom Mainstream erfolgreich in die rechte Ecke verwiesen und in ihr Gegenteil verkehrt: kriegstreiberischer Nationalismus, böser deutscher Sonderweg! Heute kann man sich kaum vorstellen, dass die Nato überhaupt infrage gestellt wird, außer von Putin.
Und ist es nicht bemerkenswert, wie wenig sich Rechtspopulisten durch den Populismusvorwurf beeindrucken lassen, während Linke jedes Mal zusammenzucken, wenn das P-Wort auf sie gemünzt wird? Die Erosion des Vertrauens in Politik und Eliten auszubeuten finden Linke unappetitlich. Sachlich bleiben! Die Rechten haben solche Probleme nicht. Sie behaupten die unglaublichsten Dinge, tischen die größten Lügen auf, fälschen hemmungslos Zahlen; sie leben also ganz ungeniert – und gewinnen die Massen.
Dafür ist nicht nur Donald Trump ein Beispiel. Rodrigo Duterte, der neue philippinische Präsident, nannte den Papst einen „Hurensohn“. Das ist nicht ohne, angesichts der Macht der katholischen Kirche auf den Philippinen. Nicht dass solche Pöbeleien Vorbild wären. Das Gegenstück dazu ist aber linke Leisetreterei, vorauseilender Gehorsam.
Traut sich noch jemand, für irgendeinen Winkel der Welt die Berechtigung eines bewaffneten Kampfes anzuerkennen – außer Ursula von der Leyen? Nichts ist so out wie bewaffneter Kampf von unten, derweil militärische Interventionen den Anstrich des Humanitären bekommen. Nur ein paar Ewiggestrige marschieren immer noch gegen Waffenexporte durch matschige Osterwiesen.
Das Ende unserer Erzählungen
Die Behauptung, wir lebten in einem Zeitalter, da alle großen Erzählungen ans Ende gekommen seien, ist ein häufig nachgeplapperter Unsinn. Es handelt sich nur um das Ende unserer Erzählungen.
Die große, aus der Not geborene utopistische Geste der Geflüchteten, sich offene Grenzen einfach zu nehmen, hat uns nicht wirklich erschüttert. Jedenfalls nicht genug, um uns auf die Möglichkeit radikalen Denkens und Handelns zu besinnen. Fähren über das Mittelmeer – wen könnte man dafür auf die Straße bringen?
Zahllose ehrenamtliche Unterstützer von Geflüchteten verrichten stumm und aufopferungsvoll ihren Dienst am Gemeinwohl. Vielleicht haben sie ein Projekt, die Idee von einer Welt, in der alle handelten wie sie. Aber sie trauen sich nicht, laut darüber zu reden, denn es ist ja so schon alles schwierig genug.
Seltsam böse Clownsgestalten
Die Systemfrage der Weltordnung, also die Frage, wie Reichtum und Armut international verteilt sind, stellt sich heute so sichtbar wie nie zuvor. Nur die Rechte hat darauf eine Antwort: Nationalismus, Abschottung, Waffengewalt. Sage keiner, diese Dystopie der Düsternis sei keine große Erzählung.
Auch die fortschrittlichen Muslime haben eine große Erzählung von rechts, der sie nichts entgegensetzen und vor der sie zurückweichen, seit mehr als einem Jahrzehnt: der Dschihadismus. Er parodiert den Gedanken der Umma, der Weltgemeinschaft, genauso wie den Kampf für soziale Gerechtigkeit. Aber er schafft wirkmächtige Bilder und Mythen, weil er die Machbarkeit des Unvorstellbaren zeigt und den Tabubruch ohne Reue vorexerziert. Die Langbärtigen haben einiges gemeinsam mit den seltsamen bösen Clownsgestalten der Rechten. Und es ist Zeit, gegenüber beiden eine neue große humanistische Erzählung in Stellung zu bringen. Sie kann nur eine gemeinsame sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin