Debatte Putschversuch in der Türkei: Der Machtkampf ist nicht entschieden
Es mag paradox erscheinen, aber durch den vereitelten Putsch hat der türkische Staat seine wichtigsten Repressionsorgane verloren.
W er die Berichterstattung über die Türkei in den letzten Tagen verfolgt, kommt leicht in die Versuchung, sich folgende Lesart zu eigen zu machen: Dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğankam der Putschversuch gelegen. Er ist politisch erstarkt. Mit der Niederschlagung des Putsches nutze er die Chance, der türkischen Demokratie den Todesstoß zu versetzen, um die Türkei in eine Einmanndiktatur mit islamischem Antlitz zu verwandeln.
Erdoğan selbst hat diese Lesart befördert, als er im Zusammenhang mit dem Putsch vom „Geschenk Gottes“ sprach. Ganz Volksverführer, der zum Bürgerkrieg aufruft, sprach er in einer Kundgebung nur zwei Tage nach dem blutigen Putschversuch: „Ob sie es wollen oder nicht. Wir werden die Kaserne auf dem Taksim-Platz errichten. Und auch eine Moschee.“
Es war eine Kriegserklärung an die säkularen Mittelschichten, die die Symbolkraft des Taksim-Platzes und der Gezi-Proteste kennen: Nach dem Putsch seid ihr dran.
„Bella Ciao“ auf dem Taksim-Platz
Doch nach der Hitze des Gefechtes muss die Mainstream-Lesart einer Kritik und Revision unterzogen werden. Da stimmt irgendetwas nicht, wenn im Ausnahmezustand in Begleitung lächelnder Polizisten „Bella Ciao“ auf dem Taksim-Platz ertönt, der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu unter dem Jubel Hunderttausender des friedfertigen Gezi-Protests gedenkt und das „Widerstandsrecht zum legitimen Mittel zum Schutz der Demokratie erklärt“.
Noch sonderbarer als die Kundgebung auf dem Taksim-Platz ist der Umstand, dass die geballte Medienmacht regierungstreuer Fernsehsender die Kundgebung live überträgt.
Und es gibt einen Werbespot, den Fernsehsender immer wieder zirkulieren lassen. Eine wehende, türkische Flagge mit einem Text, der die Worte des Republikgründers Atatürkm „Wie glücklich, wer von sich sagen kann, er ist Türke“, abwandelt: „Wie glücklich, wer von sich sagen kann, er ist Türke, Lase, Bosnier, Kurde, Zaza, Georgier, Tscherkesse, Tscheschene, Pomacke, Rom, Araber, Assyrer, Armenier, Römer [d. h. Grieche; d. A.], Albaner, Jude, Christ, Muslim, Alevit, Sunnit.“
Es folgen Fotos vom Nationalkampf Mustafa Kemal Atatürks und eindrückliche Aufnahmen des zivilen Widerstands gegen den Putsch. Text: „Wir haben den Befreiungskampf gemeinsam, Hand in Hand gewonnen und wir werden den Kampf für Demokratie gemeinsam, Hand in Hand gewinnen.“
Als ich diesen Spot erstmals sah, dachte ich an ein Fake von surrealen Kreativen, die es irgendwie geschafft hatten, illegales Sendematerial zu veröffentlichen. Wer weiß, wie niederträchtig und ausgrenzend der türkische Staat im Umgang mit Minderheiten ist, kann nur mit dem Kopf schütteln.
Zögerliche Regierungstreue
Doch die Antwort liegt auf dem Tisch: Durch den Putsch hat der türkische Staat von heute auf morgen seine wichtigsten Repressionsinstrumente verloren: das Militär, Teile der Polizei und der politischen Justiz. 40 Prozent der Generalität sind als Putschisten hinter Gittern. Und auch der Rest ist kaum vertrauenswürdig. Zu zögerlich schlugen sie sich auf die Seite der Regierung. Zwar gibt es Sondereinheiten der Polizei, die regierungstreu den Putsch bekämpften, doch die Zahl suspendierter Polizisten von über 8.000 spricht für sich.
Staatspräsident Erdoğanhat über seinen Schwager mitbekommen, dass das Militär putscht. Ministerpräsident Yıldırım hat es von einem Freund erfahren und konnte dann weder den Generalstab noch seinen Innenminister erreichen – und das, obwohl der Geheimdienst schon Stunden vorab den Generalstabschef informierte. Der türkische Staat als Papiertiger.
All das erklärt, warum die Regierung bemüht ist, den Rückwärtsgang einzulegen. Erdoğandankt Oppositionsführer Kılıçdaroğlu für „seine entschlossene Haltung gegen den Putschversuch“. Immer wieder redet der türkische Ministerpräsident Yıldırım von Dialog. Der Ausnahmezustand sei nicht über das Volk, sondern über den Staat verhängt worden. Das ist natürlich Unsinn. Nichtsdestotrotz steckt ein wahrer Kern in dieser Aussage. Die Hauptgewicht der Maßnahmen liegt auf „Säuberung“ des Staatsapparats durch Zehntausende Suspendierungen.
Die kurdisch-linke HDP mit ihrem brillanten Vorsitzenden Selahettin Demirtaş, der wie kein anderer immer wieder vor einem Putsch des Gülen-Geheimbundes in der Armee gewarnt hat, ist noch vom Dialog ausgeschlossen. Erst vor wenigen Monaten hat auf Geheiß Erdoğans das Parlament, die Immunität von Abgeordneten aufgehoben, um die HDP-Abgeordneten der politischen Justiz zum Fraß vorzuwerfen – den Staatsanwälten, die heute als Putschisten hinter Gittern sind.
Wer von einem allmächtigen Erdoğanausgeht, übersieht die wichtigste Frage: Wie soll diese türkische Armee nun den Krieg gegen die kurdische Guerilla PKK führen? Einen Krieg, den sie seit über drei Jahrzehnten führt und der letztlich nur zum Erstarken der PKK geführt hat.
Bündnis mit dem Militär
Über Jahre hinweg verhandelte Erdoğans Regierung mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan. Im Februar 2015 war es so weit. Im Dolmabahçe-Palast verlasen Kabinettsmitglieder und die Vermittler der HDP eine Deklaration, die den Friedensprozess einleiten sollte. PKK-Führer Öcalan merkte damals an, die Zukunft der Türkei hänge von der Politik der Regierungspartei ab. Sie könne zu einem Putsch oder zu Demokratisierung führen.
Es war Staatspräsident Erdoğan, der den Vertrag brach und stattdessen mit nationalistischer Rhetorik auf das Bündnis mit dem türkischen Militär setzte, um einen Vernichtungsfeldzug gegen die PKK zu führen. Sein wichtigster Bündnispartner hat nun gegen ihn geputscht.
Die aufgeputschte Türkei
Die Niederschlagung des Putsches und die Aushebelung des extrem gefährlichen Gülen-Bundes ist – ohne Wenn und Aber – ein historischer Fortschritt. Auch wenn Erdoğan nun meint, sich den Wunschtraum eines totalitären Führerstaates besser erfüllen zu können.
Doch der finale Machtkampf ist längst nicht entschieden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene