Debatte Pränataltests und ihre Folgen: Eltern als Selektierer

90 Prozent der Downsyndrom-Föten werden abgetrieben. Pränataldiagnosen und Effizienzerwartung machen Eltern oft zu Privateugenikern.

Ein Junge mit Down-Syndrom streichelt eineb Hund im Park

Oft werden Eltern von Medizinern blind gemacht für die Chancen des Lebens Foto: imago/epd

Als meine Frau und ich kürzlich den Film „24 Wochen“ im Kino anschauen, beginnt hinter uns eine Zuschauerin herzzerreißend zu weinen. Sie verlässt aber nicht das Kino, sondern schluchzt weiter, bis das halbe Publikum stumm mit den Tränen kämpft. Vorne auf der Leinwand geht es um eine beruflich erfolgreiche Frau mit liebevollem Mann, die ein Kind mit Downsyndrom spät in der Schwangerschaft abtreibt. Während wir im Kino sitzen, vor uns das Abtreibungsdrama, hinter uns die reale Verzweiflung einer Frau, schläft zu Hause unsere dritte Tochter – unser erstes Baby mit Downsyndrom.

Bei allem Verständnis für die schwere Gewissensentscheidung der Protagonistin bleibt beim Betrachten des Films dennoch Unbehagen: Wir schützen die Sumpfschildkröte und den Feldhamster, die Hornotter und die Rotbauchunke per Gesetz – aber bei unserer eigenen Spezies sind wir längst nicht mehr so sicher, wer noch dazugehören soll, wer gesund und effizient genug ist: Mehr als 90 Prozent aller Kinder mit Downsyndrom werden abgetrieben.

Wenn es nach dem „einflussreichsten Biologen seiner Zeit“ (Spiegel), Richard Dawkins, ginge, sollte diese ganze Menschengruppe vom Erdboden verschwinden. Er propagiert eine Abtreibungsrate von 100 Prozent. Rechtlich ist es in Deutschland bis zum Ende einer Schwangerschaft erlaubt, ein Kind mit Downsyndrom abzutreiben, bis zum Einsetzen der Wehen. Hebammen können Geschichten davon erzählen, die man nie mehr vergisst. Denn die Kinder, die dann im Mutterleib durch den Stich einer Kaliumspritze ins Herz getötet werden, sind meistens voll lebensfähig.

Ich bin für das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper, für das Recht auf Abtreibung. Ich respektiere dieses Recht als zivilisatorische Errungenschaft. Aber ich frage mich dennoch, welchem Wertesystem wir folgen, wohin unsere Gesellschaft driftet, in der fast alle Kinder mit Downsyndrom abgetrieben werden. Wenn Behinderte in einer Wohlstandsgesellschaft keinen Platz mehr haben sollen, verliert diese Gesellschaft aus meiner Sicht ihren zivilisatorischen Kern.

Das Motiv war brutal und profan

Die Eugenik hat in Deutschland seit der staatlich gelenkten Ausrottung von Behinderten in der NS-Zeit einen furchtbaren Ruf. Die „Krüppel“ und „Geisteskranken“ sollten die Volksgemeinschaft ökonomisch nicht belasten, so das damalige Denken. Erst ging es um die Verhinderung der Fortpflanzung von „Erbkranken“, „Krüppeln“ und „Geisteskranken“, dann um die Ausrottung der vermeintlich Minderwertigen, die sogenannte Euthanasie: die Vernichtung von als „lebensunwert“ definiertem Leben. Das Motiv war brutal und profan: Es ging um weniger Betreuungskosten, um die Vernichtung von ökonomisch als unnütz definierten Menschen.

Das ist zum Glück Vergangenheit. Doch anstelle der staatlich gelenkten Selektion ist eine Art Privateugenik getreten. Pränataltests und das gesellschaftliche Klima von Leistung und Effizienzerwartung machen die Eltern zwar jeweils individuell, aber in der Summe auch massenhaft zu Privateugenikern. Ein Kind mit Downsyndrom? Möglich und auch erlaubt, sicher. Aber das Risiko, finanziell und unter Prestigegesichtspunkten – wer will das noch eingehen?

Die Pränataldiagnostik ist dabei längst zum Motor einer privat-eugenischen Entwicklung geworden. Oft merken es die Betroffenen kaum, wie schnell die Untersuchungsangebote auf diese Fragen hinauslaufen. Doch was nützt eine Mitteilung, der Bluttest habe eine 60-prozentige Wahrscheinlichkeit auf Downsyndrom ergeben? Was nützt alles theoretische Wissen über mögliche Herzfehler und Entwicklungsdefizite?

Über das Leben mit einem solchen Kind, über das Potenzial an Glück und Erfüllung erfahren die Mütter und Väter nichts. Sie geraten in einen Tunnel aus vermeintlicher Risikovermeidung. Und werden dabei von Medizinern oft blind gemacht für die Chancen des Lebens, zum Beispiel: für ihr mögliches und glückliches Leben mit einem behinderten Kind. Vor dem Lebensrisiko, ein solches Kind nicht zu bekommen, wird selten gewarnt.

Wer darf noch geboren werden?

Viel zu selten wird Eltern auch das Wissen von Experten aus der Behindertenhilfe angeboten oder der Kontakt zu einer Familie mit behindertem Kind.

So ist in der Summe eine Abtreibungspraxis eingetreten, die einem Ausrottungsversuch dieser ganzen Menschengruppe gleichkommt – ohne es als Gesellschaft ausdrücklich zu wollen oder gar geplant zu organisieren. Sondern durch die vielen Entscheidungen einzelner Eltern, durch ihre Angst vor Abhängigkeit, Statusverlust und finanzieller Belastung. Aber auch durch die medizinische Machbarkeit. Den schicksalhaften Werkzeugkoffer der Pränatalmedizin und ihren Möglichkeiten der Selektion.

Wo ist dabei die Grenze? Welche Artgenossen lassen wir künftig noch zur Welt kommen? Die Pränataldiagnostik kennt als Technik keine Beschränkung. Das Ziel der Biomedizin ist das „genetic enhancement engineering“ geworden, die genetische Verbesserungen des Menschen. Das bedeutet aber auch: Gesellschaften, in denen die Geburt eines behinderten Kindes als vermeidbar gilt, werden künftig immer weniger bereit sein, behinderte Menschen zu integrieren. Die Kernfrage bleibt, ob es erlaubt sein soll, menschliches Leben zu töten, nur weil es von der Norm abweicht.

Ich wusste bis vor Kurzem auch nicht, wie schön das Leben mit einem Kind mit Trisomie 21 ist

Ich wusste bis vor Kurzem auch nicht, wie schön das Leben mit einem Kind mit Trisomie 21 ist. Heute weiß ich es: Es ist unendlich schön. Und selbstverständlich ist es genauso anstrengend wie das Leben mit anderen Kindern auch, deren Entwicklung man in Wahrheit auch nicht vorherbestimmen kann. Unsere Tochter gibt es nur mit Trisomie 21. Ohne gäbe es sie nicht. Sie wächst und gedeiht. Hört, sieht, schmeckt, riecht alles wie wir. Greift, guckt, krabbelt, brabbelt, steht, sitzt, isst und trinkt. Und lacht oft, mit unbändiger Freude am Leben. Sie ist ein bezauberndes Menschenkind, sie gehört zu uns. Ohne sie wäre die Welt nicht so schön.

Ich hätte die weinende Frau im Kino gern getröstet. Aber ich konnte es nicht.

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