Debatte Paralleluniversum der Politik: Weniger Berlin-Mitte, bitte!
Viele Parteien und Medien haben ihren Standort in Berlin-Mitte. Doch der Graben zwischen ihnen und den Menschen ist tief und breit geworden.
W enn auf Empörung nicht Achselzucken oder Kopfschütteln folgt, sondern lautes Geschrei. Wenn Wut auf Enttäuschung prallt. Wenn Phrasen mit Phrasen gekontert werden. Wenn glaubhaft versichert wird, mit der Europawahl habe man den Rechtsruck gestoppt, obwohl die AfD im Osten auf dem Weg zur Volkspartei ist. Wenn die eigene moralisch höherwertige Weltanschauung für das einzig Wahre gehalten wird und selbst Vanille-Duftbäume in Taxis ein Problem darstellen, dann ist das Berlin-Mitte.
Berlin-Mitte steht hier nicht für den gesamten Stadtteil mit den vielen schönen Straßen und lieben Menschen, sondern für eine Geisteshaltung, die ihre Heimat in den wenigen Kilometern rund um Kanzleramt, Bundestag, Ministerien, Hauptstadtmedien, Verbänden und Beratungen hat, die glücklicherweise nicht auf alle in diesen Bereichen tätigen Protagonistinnen und Protagonisten zutrifft, aber im Trend liegt.
Berlin-Mitte beschreibt die zunehmende Selbstbeschäftigung politischer Entscheidungsträger wie ihres beratenden und medialen Umfeldes. Berlin ist angesagt, modern und zu Recht international stark nachgefragt. Dort leben, wenn man kann? Als gewählter Abgeordneter die Heimat verlassen und den Wohnsitz nach Berlin verlegen? Warum nicht? Erst recht, wenn es heißt, man müsse dauerhaft in der Hauptstadt präsent sein, will man persönlich voran- und medial vorkommen.
Die Politszene ist überschaubar, man findet sich schnell zurecht, kennt sich und hilft sich. Abgeordneten-Mitarbeiter werden selbst zu Abgeordneten, Bundestagsmitarbeiter wechseln in Ministerien oder Verbände und solche aus Parteizentralen in Beratungen und umgekehrt.
ist Politik- und Kommunikationsberater sowie früherer hessischer Landtagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen.
Weit weg von der Vernunft
Und Journalisten? Der ein oder andere hat es geschafft, andere träumen davon, selbst Teil der politischen Mitarbeiterschaft zu werden. Mit seiner ähnlichen Herkunft, identischen Bildung und einem im Kern gleichen Weltbild bildet sich das politische Personal eine Vorstellung von der Relevanz von Themen, die stark von ihrem Berlin-urbanen Weltbild geprägt ist.
Kreativität von außen? Fehlanzeige.
Starker Wirtschaftsfaktor sind in Berlin die steigenden Mieten. Zentralen globaler Unternehmen oder eine starke Industrie würde andere Menschen nach Berlin locken als Politik, Kultur, Medien und Start-ups. Sie würden zu anderen Diskursen beitragen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Allzu oft wird nach Standards des letzten Jahrhunderts gearbeitet. Dabei gibt es genug funktional und modern gestaltete Gebäude, in denen Zukunft erdacht und umgesetzt werden könnte. „Politik ist die Kunst des Zusammengehörens“, sagte einst Axel Schultes, der Schöpfer des Kanzleramts – „eine Kunst und kein Zwang.“ Geschaffen hat er den vermutlich modernsten Regierungssitz der Welt. Nimmt man ihn beim Wort, ist er allerdings aus der Zeit gefallen. Vom Willen des Zusammengehörens ist wenig übrig.
Der Graben zwischen den Menschen im Land und dem Politikbetrieb in Berlin ist tief und breit geworden. Berlin-Mitte ist so weit wie lange nicht entfernt von Ansprüchen und Vernunft der Bürger. Man dreht sich um sich selbst, hebt in der logischen Konsequenz ab und entfernt sich so mit jeder Umdrehung immer weiter von denen, um die es geht. 83 Millionen Menschen in diesem Land.
Lautstärke ist die eigentliche Währung
Es ist ein Paralleluniversum. Analog wie digital. Gefolgt und bestärkt wird sich im Netz. Getroffen wird sich im Café Einstein, Unter den Linden oder im Borchardt nahe der Friedrichstraße. Gezahlt wird in Euro.
Die eigentliche Währung ist jedoch eine andere. Lautstärke. Es zählt die Reichweite. Wer am schnellsten und am schärfsten formuliert, wer den Zeigefinger auf Knopfdruck in den Himmel recken kann, wer politisch Andersdenkende denunzieren und Rücktritte in Sekundenschnelle fordern kann und damit Resonanz erfährt, liegt vorne.
Programmierte Empörung ist zum Erfolgsfaktor geworden. Es sind nicht die virtuellen Blasen, die den Diskurs beschädigen, sondern die physisch-analogen Filterblasen in Bundestagsbüros, Verbänden und Denkfabriken.
Zunehmend auch in Redaktionen. Während die alte Republik von starken Medienhäusern in Hamburg, München, Frankfurt geprägt war, so Themen- und Meinungsvielfalt garantierte, beschleunigt das starke Aufrüsten von Hauptstadtbüros und Verlagerungen nach Berlin-Mitte den Filterblaseneffekt.
Grenzen verschieben sich
Es ist schließlich keine Weisheit, dass das Umfeld, mit dem man sich täglich beruflich wie privat austauscht, beeinflusst, welche Themen für wichtig gehalten werden. Entsprechend wird geschrieben, produziert und gesendet. Die Titelseiten zeigen vieles, aber sie sind zu oft Berlin-Mitte. Auch in der taz.
Und nebenbei haben sich die Grenzen verschoben. Politiker probieren sich mit eigenen Formaten im Netz aus, werden lauter, um Öffentlichkeit, Meinungsmacher und Medien immer intensiver zu bespielen, und Journalisten bewegen sich an der Grenze zum Aktivismus und werden in Teilen selbst politische Akteure.
Nach Max Weber machen Politiker vor allem drei Qualitäten aus: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Aus dem Marathonlauf, Webers langsamem Bohren dicker Bretter, ist der 100-Meter-Sprint und der Schlag mit dem Hammer geworden. Orientierung bieten für viele politische Akteure Likes, Shares und mediale Erwähnungen. Messbare Resonanz, die über Hierarchien, Hackordnungen und Karrieren entscheidet.
Ein langjähriger Abgeordneter beschrieb mir Politik kürzlich als Ausbildungsberuf. Unrecht hat er damit nicht. Die Handgriffe müssen sitzen, Informationsbeschaffung und Verarbeitung müssen geplant, das Team muss justiert, Fachexpertise ständig erneuert und schnell abrufbar sein. Es ist in Ordnung, dass diejenigen, die Politik professionell betreiben, anders darüber reden, als es Bürgerinnen und Bürger tun.
Mikrokosmos auch mal verlassen
Die beiden Welten dürfen sich allerdings nicht aus den Augen verlieren. Gerade dann nicht, wenn es um die Frage geht, wie wir Europa modernisieren, dem Klimawandel begegnen und die Digitalisierung für den Erhalt von Wohlstand und Freiheit nutzen.
Die eigentliche Kraft unserer Gesellschaft liegt auf dem Land. Während in Berlin-Mitte analog wie digital Debatten über Grenzwerte, Uploadfilter oder Facebook-Posts von Bürgermeistern geführt werden, verändert sich Deutschland gewaltig. Antreiber des Wandels ist Deutschlands Provinz. Dort sitzen mittelständische Weltmarktführer.
Unbeachtet von der politischen Elite gestalten sie New Work, Kollaboration und Innovation selbst. Politiker, ihr Umfeld, der ganze Politikbetrieb – sie alle müssen deshalb raus aus der Blase. Sie müssen anders handeln, vor allem aber anders reden und dort zuhören, wo Bürger wie Politik anpacken, tüfteln, kreativ sind und Zukunft gestalten.
Für die Schaffer und Macher in unserem Land sind die Debatten in Berlin-Mitte weder repräsentativ noch haben sie besonderen Mehrwert. Es tut gut, von Zeit zu Zeit diesen Mikrokosmos hinter sich zu lassen. Denn Politik findet vor Ort statt. Dort, wo Entscheidungen nicht nur eine direkte politische Wirkung haben, sondern auch das gesellschaftliche Umfeld mitgedacht und der Alltag für die Mehrheit in unserem Land gestaltet wird.
Empörung reicht nicht
Allein mit Digital Natives aus dem Regierungsviertel, die aus ihrer urbanigen Berliner Sicht Konzepte, wie die Zukunft aussehen könnte, erstellen, wird der Wandel nicht gelingen.
Allein die Empörungsspirale, Deutschland verpasse den Anschluss an die Digitalisierung, Unternehmen würden nicht mitdenken, nicht zügig genug erneuern, alten Geschäftsmodellen nachhängen, die großen Konzerne im Süden der Republik seien sowieso von gestern, wird es nicht richten.
Deutschland ist ein Land, in dem die Hauptstadt nicht maßgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg beiträgt. Häme? Nein. Wie kaum ein zweites Land auf der Welt sind wir breit aufgestellt und haben ein starkes Länderfundament. Statt weiter den Bundeshaushalt aufzublähen, immer mehr Kompetenzen nach Berlin auszulagern, müssen mehr Mittel in die Regionen gegeben und dort investiert werden, um Innovation, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die kulturelle Vielfalt zu verbessern.
Meine tiefe Überzeugung: In Zeiten der Globalisierung ist regionale Verankerung ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg.
Es zählt nicht die schiere Größe, sondern das Gefühl für die Realität und die Nähe zur Bevölkerung. Politik sollte sich hier ein Beispiel an Joe Kaeser nehmen.
Der Siemens-Chef baut den Konzern radikal um, wandelt ihn für das, was kommen mag. Wohnsitz im hippen Schwabing oder im angesagten Glockenbachviertel in München? Fehlanzeige. Der CEO wohnt im 2.000-Einwohnerdorf Arnbruck in Bayerischen Wald. Und das ganz bewusst: „Es hilft ungemein, wenn Sie das ganze gesellschaftliche Spektrum kennen. Um als Führungskraft die Menschen wirklich zu erreichen, müssen Sie sie verstehen“. Joe Kaeser hat recht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland