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Debatte NichtwählerAuf die kleinsten Marktplätze

Ulrike Winkelmann
Kommentar von Ulrike Winkelmann

Die Zahl der sozial abgehängten Wahlverweigerer steigt. Langfristige Strategien, sie zurückzugewinnnen, gibt es nicht. Dabei liegt das Gute wie oft so nah.

Halt, nicht weglaufen! Gibt es einen Weg die Wahlbeteiligung zu verbessern? Bild: ap

N aht eine Wahl, wird gern auch der Wahlkampf selbst zum Thema gemacht: Welche neue raffinierte Strategie aus den USA übernommen wurde, wie fantasielos das alles schon wieder online aussieht und so weiter.

Was aber auch dieses Jahr garantiert keine Rolle spielen wird: Gibt es einen Weg, die Wahlbeteiligung der sozial Abgehängten zu verbessern? Ihnen das Gefühl zu geben, dass demokratische Teilhabe sich lohnt? Also: Wie könnte die demokratische Integration derer funktionieren, die am stärksten auf den Staat angewiesen sind?

Die Daten und Statistiken sind ja vorhanden und belegen, was viele auch als Bild der bundesrepublikanischen Wirklichkeit im Kopf haben: Die Lebensumstände sind ungleicher geworden. Die Chancengerechtigkeit ist überall, in jedem Lebensalter geschrumpft. Es müsste eigentlich im Interesse aller demokratisch Denkenden sein, dass die VerliererInnen dieser wirtschaftlichen und sozialen Prozesse ihre demokratischen Rechte wahrnehmen – und wählen gehen.

Bild: privat
Ulrike Winkelmann

Seit Ende 1999 in der taz, als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin. Ein Jahr bei der Wochenzeitung Der Freitag. Leitet jetzt das Inlandsressort der taz.

Die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahrzehnten – abgesehen von einem Zwischenhoch 1998, der Kohl-ablöse-Bundestagswahl. Überholt haben die Nichtwähler die beiden alten Volksparteien bei Bundestagswahlen aber erst 2009. Da betrug die Wahlverweigerungsquote 29,2 Prozent, Union wie SPD erhielten anteilig an allen Wahlberechtigten jeweils weniger als 25 Prozent.

Enttäuschungen und Betrug

Es gelingt der Wissenschaft bislang kaum, aus der Wahlverweigerung Schlüsse zu ziehen, die auch nur bis zur nächsten Wahl halten. Gut, die erfragten, geläufigen Gründe lauten: Enttäuschung über Politik, das Gefühl, betrogen worden zu sein. Analytisch wird dann meist zwischen den Sowieso-Niewählern und den Abwägend-Manchmalwählern unterschieden.

Das Nichtwählen gilt demnach inzwischen auch für Bessergebildete als Option. Insgesamt lassen sich aber die gemeinhin vermuteten Zusammenhänge zwischen Bildung, sozialem Status und Wahlinteresse eher bestätigen als widerlegen. Wer sozial abgehängt ist, neigt zum Nichtwählen. Wer durch Job, Bildung, Einkommen stärker in die Gesellschaft eingebunden ist, wählt.

Den Parteizentralen scheint dies aber weitgehend egal zu sein. Das bisschen Mühe, das sich die etablierten Parteien zu machen bereit sind, gilt der Manchmal- und Wechselwähler-Gruppe. Die „eigenen Leute“ zu mobilisieren, lautet das vornehmste Strategieziel. Die Logik dahinter: Wir machen das am liebsten, was wir am besten können, und das am besten, was wir am liebsten tun – mit unseresgleichen kommunizieren.

Die einzigen Parteien, die Zielgruppen auch in der Nichtwählerschaft sehen und anzusprechen versuchen, sind die Linkspartei und in jüngster Zeit auch die Piraten. Die Linkspartei will ohnehin all jene aufsammeln, die der SPD zu Zeiten der Kanzlerschaft Gerhard Schröders den Rücken kehrten.

Es braucht Linkspopulismus

Nur die Linkspartei denkt laut darüber nach, welche politische Rhetorik für die gemeinte Gruppe angemessen ist. Sie bekennt sich zum simplen Ton. „Ich glaube, es braucht Linkspopulismus, auch in der Zuspitzung“, erklärt Parteichefin Katja Kipping. Der Erfolg der Linkspartei bei der Ansprache neuer beziehungsweise ehemaliger Wähler hält sich trotzdem in engen Grenzen.

Für Verblüffung sorgte dagegen zuletzt die Piratenpartei: Bei der Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus 2011 gab die größte Gruppe der Piratenwähler an, zuvor nicht gewählt zu haben. Es sieht allerdings nicht aus, als ließe sich das wiederholen: Vermutlich sind diejenigen, die sich von den Piraten vom Sofa oder vom Rechner weglocken ließen, auch schon wieder enttäuscht.

Die Fragen aber bleiben: Wie viel Vereinfachung ist notwendig, um mehr und andere als die eh schon Informierten zu erreichen? In der Presse wie bei den Talkshows darf man sich wahrscheinlich bloß einbilden, das Menschenmögliche zur Reduktion von Komplexität zu tun.

Ein Blick in die Programme der privaten Fernsehsender sowie jeder Ausflug an mediale Orte, die das Bildungsbürgertum nicht für sich hat, lässt allerdings nur einen einzigen Schluss zu: Gegen die leichte Verdaulichkeit der Themen Paarungsverhalten und Körperkultur kommt kein Versuch an, Politik zu erzählen.

Menschliche Nähe

Es gibt offenbar nur einen Faktor, der Politik denen näherbringt, die sich ansonsten für abgehängt halten: menschliche Nähe. Die Göttinger SozialforscherInnen Johanna Klatt und Franz Walter haben im Stadtteil-Multifunktionär – sie sprechen von „ViertelgestalterInnen“ – die letzte Person ausgemacht, die sozial Benachteiligte für demokratische Mitbestimmung zu gewinnen vermag.

Denn Bildungsmangel und Arbeitslosigkeit lassen als einziges vertrauensbildendes Kriterium die persönliche Ansprache zu. Und diese lautet, schreiben Klatt und Walter, nicht „engagier dich“ oder „partizipiere“, sondern schlicht „hilf“.

Wer auch im Viertel lebt und gleichzeitig ein Vorbild ist, kann auf diese Weise andere anstiften: zum Kuchenbacken für den Schulbasar, zum Fußballturnier, zum Aufrichten des Gartenzauns – und vielleicht auch dazu, sich politisch zu interessieren.

Dazu müssen die PolitikerInnen, so wären Klatt/Walter zu ergänzen, aber ihre eigene Präsenz verändern. Ja, genau: Dazu gehört, auf die ganz kleinen Marktplätze zu gehen. Sich von Menschen volltexten zu lassen, die oft umschweifig reden.

Zurück zur „Basis“

Sich von den eigenen Funktionären, die sich selbstherrlich zur „Basis“ erklären, fernzuhalten, eher mit Nichtorganisierten zu reden. Für die PolitikerInnen, die lokal etwas zu entscheiden haben, heißt das auch, solche Stadtteil-FunktionärInnen zu erkennen und aufzuwerten, sie nicht als lästig abschütteln zu wollen. Stadtteilkulturzentren hinstellen und eröffnen reicht nicht.

Für die Medien bedeutet das: Es könnte der Selbstaufklärung dienen, sich genauer damit zu befassen, wem ein Gesetz, eine Maßnahme wirklich nützt. Möglicherweise fällt dann auf, wie oft die Interessen der Nichtwähler nicht berücksichtigt werden. Und dass dies dazu führt, was dann wieder so wortreich medial beklagt wird: dass die Gesellschaft auseinanderfällt.

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Ulrike Winkelmann
Chefredakteurin
Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.
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9 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Wer meiner Meinung nach Parteien wie CDU, CSU, SPD, FDP, GRÜNE und LINKE noch wählt, findet Schwarzgeldaffären, Verstöße gegen das Grundgesetz, Freiflugaffären, Amigo-Affären, Seilschaften zur Justiz, Verstrickungen zur Wirtschaft sowie Banken und die SED Vergangenheit in Ordnung und unterstützt auch noch, dass deutsche Steuergelder ohne Maß und Ziel für das Fass Europa (ohne Boden) geopfert werden und unsere Kinder, Enkel, Urenkel und Ur-Urenkel in der Haftung stehen, dass immer mehr Bürger durch die immens steigenden Lebenshaltungskosten obdachlos werden, während sich automatisch die Diäten für unsere Volksvertreter erhöhen, dass unser Wahlrecht über Jahre verfassungswidrig war und nun versucht wird den Bundestag mit einem neuen Wahlrecht von 619 auf bis zu 800 Abgeordnete bei 80Mio. Einwohner aufzublähen (USA nur 435 Repräsentanten bei 314 Mio. Einwohner), dass das Meldegesetz irgendwann doch noch kommerzialisiert wird, damit Behörden persönliche Daten an Adresshändler verkaufen können, dass 3,5 Millionen Kinder in Armut leben und das nicht in Afrika, sondern in Deutschland, dass sie seit Jahrzehnte für eine schlechte Familienpolitik gesorgt haben und somit für den Geburtenrückgang mitverantwortlich sind, dass die Bürger zwischenzeitlich transparent sind, während die Abgeordneten nach wie vor ihre Nebeneinkünfte verschleiern können, dass unser Grundgesetz nur für den Bürger gilt, während die Parlamentarier und ihre Parteien es missachten.

  • D
    DwA

    Vielleicht ist ja die Alternative für Deutschland eine Möglichkeit?

    Wenn man jedoch nicht an die Positionen der AfD glauben kann oder ähnliche Überzeugungen hat, dann wäre vielleicht die “Partei der Nichtwähler” eine Alternative zur Stimmenthaltung.

    = siehe bei: http://www.parteidernichtwaehler.de/

    Und dort gäbe es auch die Forderung nach einer direkten Beteiligung der Bürger in Form von Volksabstimmungen im Programm sowie einige andere recht "revolutionäre" Ideen.

    Vielleicht sind aber auch dieser Ansatz / diese Thesen = siehe

    http://ef-magazin.de/2013/06/24/4311-demokratie-nichtwaehlen

    ein paar Gedanken wert.

  • DW
    Die Wissenschaft

    Es stimmt einfach empirisch nicht, dass alle Nichtwählerinnen eine einheitliche (Protest-)Haltung haben. Wir wissen, dass es mindestens vier verschiedene Nichtwählergruppen gibt:

    1. Die, die es vergessen haben, krank waren, auf dem Weg zum Wahllokal einen Unfall hatten usw.

    2. Die, die rational abgewogen haben, bei dieser Wahl nicht hinzugehen, weil Merkel sowieso gewinnt zB.

    3. Die, für die Politik keine Rolle spielt (subjektiv), die auch nicht unzufrieden sind unbedingt, sondern einfach nichts mit der Politik zu tun haben wollen und

    4. Die, die aus Protest zu Hause bleiben, sich aber für Politik interessieren. Das ist keineswegs die größte Gruppe.

     

    Aber würde der Autor diese Fakten zur Kenntnis nehmen, die man in jeder Einführungsvorlesung über Politische Soziologie erfahren kann, käme die These ja nicht so knackig rüber.

  • ES
    Ey, sonst noch was?

    Also nee.

    Echt nich.

     

    Ich erwarte von volljährigen Menschen einfach so, dass die sich für Politik interessieren und wählen gehen.

    Einfach so.

    Dafür muss man denen nicht erst sonstwas sonstwo reinschieben.

     

    In allen möglichen Zusammenhängen ist immer von "niedrigschwelligen Angeboten" die Rede.

    Wählen IST ein niedrigschwelliges Angebot.

    Dauert keine 5 Minuten und Lesen können muss man für die Abkürzungen der Parteien und fürs Kreuz machen im Grunde auch nicht.

     

    Solls doch lassen, wens nicht interessiert.

    Wer nicht will, der hat schon.

    Umso mehr relatives Gewicht bekommt meine Stimme. Geil!

    Wenn die mir den Gefallen tun wollen: Bitte sehr!

     

     

    Und noch etwas:

    Als ob Politik immer erst beim Europäischen Parlament oder so anfangen würde. Politik ist auch die Frage, ob die öffentliche Bibliothek und der Kindergarten um die Ecke gebaut und renoviert werden und wovon das bezahlt wird.

    Mit Nichtwählen drückt man daher nicht mehr und nicht weniger aus als dass einem die Frage, ob es öffentliche Bibliotheken geben soll, am Arsch vorbeigeht.

    Und das geht KEIN BISSCHEN in Ordnung.

    Arrogante Arschlöcher!

  • MF
    Michael Fielsch

    Eine Alternative für Nichtwähler bzw. ihrer Enttäuschung eine Stimme zu geben, sehe ich in der Partei "NEIN!-Idee" die ohne ideologischen Inhalt als regulierende Kraft im Wahlsystem anzusehen ist...

     

    www.Nein-Idee.de

     

    www.Nein-Idee-Berlin.de

     

     

    Die Nichtwähler vereinen inzwischen mehr Stimmen auf sich als beide großen "Volksparteien" zusammen. Das derzeitige Wahlsystem schließt Menschen mit einem anderen Demokratieverständnis einfach aus.

     

    Auf dem Stimmzettel fehlt die NEIN-Option. Man kann nur zustimmen oder sich der Wahl entziehen. So bekommt die Vernunft nie eine Chance.

     

    In der Bundesrepublik ist ein Wahlsystem installiert, in dem alle Menschen, denen das negative und destruktive (Ellenbogen-) Kämpfen nicht gegeben ist, automatisch ausgeschlossen werden.

  • W
    Westberliner

    Einsammeln will die Nichtwähler auch die NEIN!-Idee

     

    www.NEIN-Idee.de

     

    Damit sollte sich auch einmal die "taz" befassen. Es gibt sogar einen Berliner Landesverband.

  • NM
    Nie mehr eine 'Führerin MerkelA

    Nie mehr MerkelA, die Totengräberin der Demokratie!

    Nie mehr - nie mehr!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

  • T
    T.V.

    Danke.

  • AO
    Aleksandr Orlov

    Nichtwählen ist ein Protest.

    Protest gegen die Politik.

    Wenn man Nichtwähler zu Wählern machen will, muss man nicht auf die Marktplätze gehen, sondern eine Politik machen die den Menschen nutzt statt den Banken.

    Nur so als Beispiel.

    Wenn die Politik so ist, dass man dagegen nicht durch Nichtwählen protestieren will, dann hat man auch wieder Wähler.

    Alles andere ist typische Marketingquacksalberei, bei der der Kunde (Wahler) schuld ist, wenn ihm das Produkt (Politik) nicht schmeckt.