Debatte Lust an historischen Vergleichen: Verwirrt im eigenen Schlafzimmer
Die rechtspopulistischen Umbrüche in vielen Ländern haben viele Linksliberale unvorbereitet getroffen. Sie haben das Weckerläuten nicht gehört.
The french aristocracy never saw it coming either“ soll vor ein paar Jahren an einem Wohnhaus in Brooklyn gestanden haben, so groß, dass man es über den East-River hinweg noch von Manhattan aus sehen konnte. Das zumindest erzählte mir kürzlich ein Freund, der im April 2014 dort war. Sofort scheint mir der Satz eingängig und beeindruckt mich durch seine scheinbar prophetische Warnung, klingt sie auch ein wenig zu knackig, wie der Slogan einer hippen Werbeagentur.
Aber ja – wir alle haben es nicht kommen sehen, den drohend auf uns zu rückenden Umbruch, nicht wir in Europa, die wir zu großen Teilen vom Brexit so überrumpelt wirkten, als wäre das Referendum nie mehr als ein Aprilscherz gewesen, nicht die vielen linksliberalen New Yorker, die über Donald Trump höchstens müde lächelten.
Doch erst das letzte Jahr hat viele, ob in Europa oder in den USA, aufgeschreckt und nicht wenige meinen nun das Zusammenbrechen eines Wertesystems zu beobachten, auf das wir uns so lange als unzerstörbar verlassen haben.
Nun blicken wir ängstlich nach Frankreich, wo sich bei den Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag eine Kandidatin mit ebenfalls nationalistisch abschottenden Versprechungen mindestens bis in die Stichwahl durchsetzen könnte. We never saw it coming - dabei stand es meterhoch in die Stadt geschrieben.
Das Weckerläuten überschlafen
Trete ich einen Schritt zurück, kommt mir die momentane Alarmiertheit wie die verwirrte Aufregung nach einem zu langen Traum vor, der uns alles Weckerläuten hat überschlafen lassen. Das Präteritum des warnenden Brooklyn-Slogans ist der größte Vorwurf: Denn wir mögen es vielleicht jetzt sehen, aber wir sahen es nicht kommen. Und nun stehen wir überrumpelt da und finden uns nicht einmal mehr in unserem eigenen Schlafzimmer zurecht.
Wenn die Gegenwart unerwartete Haken schlägt, wächst unsere Sehnsucht nach Orientierung und der Blick zurück suggeriert diese, ob als heiles und heilendes Bezugssystem, als in der Vergangenheit imaginierte Heimat, wie es reaktionäres Denken heraufbeschwört, oder als Vergleichsfläche, mit deren Hilfe die Gegenwart kritisch analysiert werden kann. Retrospektiv lässt sich bedachter und dadurch auch genauer als im tagespolitischen Tempo untersuchen, welche politischen Entwicklungen bedrohliche Folgen nach sich zogen – und gegebenenfalls auch, wann und wie etwas vielleicht noch abzuwenden gewesen wäre.
Ob Papst Franziskus, der sich durch den neuerlichen Aufstieg charismatischer Führungsfiguren an die frühen 1930er Jahre in Deutschland erinnert fühlt, wie er im Januar erklärte, oder der Autor Daniel Kehlmann, der nach der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl in einem Zeit-Artikel gleich zu mehreren „großen Wellen kollektiver Selbsttäuschung“ zurückzublicken empfahl, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen: Historische Vergleiche scheinen mir derzeit so virulent wie lange nicht mehr zu sein.
Vielleicht aber liegt das neu erwachte Geschichtsbewusstsein nicht nur an den entschleunigenden Analysevorteilen, sondern zumindest ein Stück weit auch daran, dass man so die Frage, wie genau denn die Zukunft aussehen könnte oder sollte, noch ein wenig vor sich herschieben kann. Sogar eine genaue Beschreibung der Gegenwart kann umschifft werden, da man sich im metaphorisch Ungefähren aufhält. Irgendwie ist manches gerade wie in den frühen 1930er Jahren oder doch eher wie zur Zeit der Französischen Revolution.
Wichtigtuerisches Raunen
Der stetige Vergleich nährt das Gefühl, an einer geschichtlich bedeutenden Umbruchsituation teilzuhaben. Doch wenn er nicht präzise genug abgegrenzt ist, kann er dabei leicht in ein Raunen von einem Epochenwechsel umschlagen, in eine Warnung vor etwas vermeintlich Dunklem, mindestens jedoch bedrohlich Unbekanntem, das auf uns zukommt.
Und wenn man auch nicht so genau weiß, ob es ein neuer Faschismus sein wird, ein neues Jakobinertum oder etwas ganz anderes, so sind wir doch Teil eines historisch großen Ereignisses, und jetzt gilt es, sich zu beweisen: nicht so blind zu sein wie die französischen Adligen kurz vor der Revolution oder wie jene, die vor achtzig, neunzig Jahren nicht laut genug vor den Demagogen Hitler und Mussolini warnten.
Vergleiche, ob historisch oder nicht, heben eine Ähnlichkeit hervor, das heißt, die beiden in Bezug gesetzten Phänomene müssen nicht in jeder ihrer Eigenschaften übereinstimmen. Gleichwohl scheint es mir bei historischen Vergleichen umso dringlicher, die Dimension nicht zu verfehlen.
Man muss dafür bei Weitem nicht so irrigen Abwegen folgen wie jenen von Trumps Pressesprecher Sean Spicer, der historische Fakten gleich völlig missachtete, als er letzte Woche mit Blick auf Baschar al-Assads mutmaßlichen Giftgasangriff behauptete, nicht einmal Adolf Hitler hätte chemische Waffen einsetzen lassen. Zynischer kann ein Vergleich nicht fehlschlagen.
Die Dimensionen verfehlt
Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan jüngst das Auftrittsverbot für türkische Politiker in Deutschland und den Niederlanden mit einem Verweis auf das Vorgehen der Nationalsozialisten zu skandalisieren versuchte, verfehlte er eindeutig die Dimensionen – ich werde nicht die Einzige gewesen sein, der das mehr als offensichtlich schien. Doch auch bei jenen Vergleichen, die leichter verfangen, sollten wir genau abklopfen, wie sehr die Similarität trägt. Der Blick in die Geschichte, so wichtig er ist, darf nicht in ungenauen Alarmismus umschlagen.
Französische Revolution also! Aber befinden wir uns tatsächlich vor einem revolutionären Moment, sind wir gar bereits mittendrin – oder ist die Beschwörung eines Ausnahmezustandes Angst, der wir uns hingeben? Ein Slogan wie jener in Brooklyn kann nur der Anstoß dafür sein, uns diesen Fragen zu stellen. Und so sehr Ähnlichkeitsbeziehungen es ermöglichen, manches klarer zu sehen, so sind es eben auch die Unterschiede, die bedeutsam sind und auf die ebenfalls zu reagieren ist. Diese aber sind neu – und darum so schwer zu greifen.
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