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Debatte Lage in der UkraineDie letzte Chance

Kommentar von Barbara Oertel

15 Monate nach den Maidanprotesten befindet sich das Land im Krieg und in einer Wirtschaftsmisere. Und Kiew trifft fatale Entscheidungen.

Der „Rechte Sektor“ marschiert – hier Ende Juli gegen die Regierung in Kiew. Foto: reuters

E s wird wohl kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass die innenpolitische Gemengelage in der Ukraine alles andere als einfach war, als Petro Poroschenko am 25. Mai 2014 zum Präsidenten gewählt wurde. Der Euro-Maidan – nach der Orangen Revolution 2004 die zweite große Protestbewegung – hatte über 100 Menschen das Leben gekostet und auch unappetitliche Gruppierungen wie den faschistischen „Rechten Sektor“ auf die politische Bühne katapultiert.

Ein paar wenige Oligarchen, zu denen auch Poroschenko gehörte, walteten und schalteten nach ihren eigenen Gesetzen – in der Wirtschaft genauso wie in der Politik und den Medien. Im März 2014 war die Halbinsel Krim von Russland nach einer Abstimmungsfarce quasi handstreichartig annektiert worden. Und im Donbass, in den Regionen Lugansk und Donezk, hatten unter tatkräftiger Mithilfe Moskaus Kampfhandlungen zwischen prorussischen Kämpfern und der ukrainischen Armee begonnen.

Heute, 15 Monate später, bietet sich ein düsteres Bild, und Poroschenko hat auf der Habenseite nur wenig vorzuweisen. Nach wie vor haben die Oligarchen das Land fest im Griff – trotz Versuchen, sie in ihre Schranken zu weisen, wie im Fall der Absetzung des Gouverneurs von Dnipropetrowsk, Ihor Kolomojskyj. Entgegen vorherigen Ankündigungen hat auch Poroschenko seine Firmen nicht veräußert, was kein gutes Licht auf die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen wirft, entschieden gegen die Magnaten und damit auch gegen sich selbst vorzugehen.

Der Krieg im Donbass hat mittlerweile auf beiden Seiten mehr als 10.000 Tote gefordert. Das im Februar geschlossene Waffenstillstandsabkommen Minsk 2 ist labil, fast täglich sind Opfer zu beklagen. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die wirtschaftliche Lage ist desolat. Das Bruttoinlandsprodukt ist 2014 um 6,8 Prozent zurückgegangen, für 2015 werden weitere 5,5 Prozent prognostiziert. Die Reallöhne werden in diesem Jahr aller Voraussicht nach um 15 Prozent fallen. Experten veranschlagen die Inflationsrate für 2015 auf 30 bis 35 Prozent.

Skandalöse Wahlbeeinflussung

Doch einmal abgesehen von dem andauernden Krieg, den Russland mal mehr oder weniger anheizt, und der wirtschaftlichen Misere: In jüngster Zeit gibt es innenpolitische Entwicklungen, die auch bei wohlgesinnten Beobachtern nur Fassungslosigkeit hervorrufen können. Die Nachwahlen für einen Sitz im nationalen Parlament; der Werchowna Rada, am 26. Juli 2015 in Tschernihiw, wurden schon Tage vor der Abstimmung in den ukrainischen Medien als „skandalös“ bezeichnet. Zu Recht.

Das Duell zwischen dem Kandidaten für die Poroschenko-Partei, Sergej Beresenko, und dem von Kolomojskyj unterstützten Vertreter der Ukrainischen Vereinigten Patrioten (Ukrop), Gennadi Korban, erinnerte fatal an die sogenannten Abstimmungen zu Zeiten des abgesetzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch: Wählerbeeinflussung mittels der Verteilung von Lebensmitteln, Stimmenkauf sowie Einschüchterung von Wählern – das ganze Programm. Poroschenko bezeichnete diese Wahl als „Schande“, die das Land in das Jahr 2012 zurückversetze. Das müsse Konsequenzen haben.

Sieh mal einer an! Der Präsident sollte es nicht bei dieser Feststellung belassen, sondern vielleicht einmal Ursachenforschung betreiben, wie es dazu kommen konnte und was das alles über die „demokratische Gesinnung“ der Beteiligten aussagt. Zumal im Oktober Kommunalwahlen anstehen.

Lichtjahre von „westlichen Werten“ entfernt

Von ähnlicher „Güte“ ist die Entscheidung der Regierung, der Kommunistischen Partei das Recht zur Teilnahme an diesen Wahlen und ihren Parteistatus zu entziehen – mit der Perspektive auf ein Verbot. Ähnliche Anwandlungen hatte Regierungschef Arseni Jazenjuk bereits im Juli vergangenen Jahres. Damals lautete die Begründung, die Kommunisten unterstützten die prorussischen Kämpfer mit Geld und Waffen. Irgendwie versandete das Verfahren jedoch vor Gericht. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Oktober kamen die Kommunisten auf 4 Prozent, was eher auf ein überschaubares politisches Gewicht hinweist.

Der Vorstoß der Regierung in dieser Causa lässt leider nur einen Schluss zu: dass die Führung in Kiew von westlichen Werten, die sie sich ja gern auf die Fahnen schreibt, immer noch Lichtjahre entfernt ist. Die Erkenntnis, dass ein Parteiverbot in einem Rechtsstaat die Ultima Ratio sein muss und die Auseinandersetzung mit einer Partei auf politischer Ebene zu suchen ist? Fehlanzeige! Stattdessen mutet das Vorhaben wie ein Rachefeldzug an.

Auch die Bestellung des ehemaligen georgischen Staatspräsidenten Michail Saakaschwili zum Gouverneur des mehrheitlich russischsprachigen Gebietes Odessa vor zwei Monaten zeugt nicht eben von Weitsicht. Saakaschwili, gegen den in seinem Heimatland mehrere Verfahren laufen, hat sich im Kampf gegen Korruption und bei Reformen zweifellos einige Verdienste erworben. Welch demokratischen Geistes Kind er ist, zeigte sich jedoch im Umgang mit seinem Verhalten vor und während der georgischen Parlamentswahlen 2012. Da war kein Mittel zu schmutzig, um den eigenen Machterhalt zu sichern.

Signale fataler Entscheidungen

Was sagt uns das alles? Dass Kiew nach 2004 ein zweites Mal Gefahr läuft, die Chance auf eine grundlegende Umgestaltung des Landes zu verspielen. Denn die Signale, die derlei Entscheidungen aussenden, sind fatal. Nach innen, weil sie die Gesellschaft weiter polarisieren, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo es darum gehen muss, die Menschen wieder zusammenzuführen. Nach außen, weil denjenigen in die Hände gespielt wird, die nichts unversucht lassen, die „faschistische Junta“ zu diskreditieren und Kräfte, die die Ukraine unterstützen wollen, in Erklärungsnot bringt.

Und was tut die EU? Sie laviert – zuletzt beim Gipfel der Östlichen Partnerschaft im Mai in Riga, als Visaerleichterungen wieder einmal vertagt wurden. Das aber ist keine Antwort auf die Frage, wie es in der Ukraine weitergeht und welche Rolle Brüssel dabei spielen kann und will. Die EU muss ihre Verantwortung gegenüber Kiew stärker als bisher wahrnehmen. Das tut sie derzeit nicht. Aber da ist die Ukraine ja leider kein Einzelfall.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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9 Kommentare

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  • Im ersten Absatz lese ich, dass Poroschenko "zum Präsidenten gewählt wurde". Im zweiten steht, dass die Wahl auf der Krim "eine Abstimmungsfarce" war. Hab ich da was falsch in Erinnerung, Frau Oertel? Am 21.2.2014 wurde unter Mithilfe der EU von Janukowitsch und der politischen Opposition im Land die "Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine" getroffen, bei der vorgezogene Wahlen noch im Jahr 2014 vorgesehen waren. Einen Tag später wurde der - immerhin früher mal gewählte - Präsident Janukovitsch von der Rada für abgesetzt erklärt - ohne juristische Grundlage...

    Was die Krim anbelangt: im Verfassungstext der Ukraine von 1992 stand nichts davon, dass die Krim unveräußerlicher Teil der Ukraine sei. Die Krim ist nach dieser Verfassung ein eigenständiges Subjekt, das lediglich gewisse Hoheitsrechte an die Ukraine abgibt. Somit ist die Abstimmung auf der Krim vom 16.3.2014 wohl doch nicht so illegal und eine "Farce"...

  • Einseitig und verfälscht -- wie so oft.



    Gegen Saakaschwili wird nicht nur wegen Gewaltexzessen gegen die Opposition 2007 und 2012 ermittelnd sondern auch wegen "Veruntreunung" im Sinne von Verwendung öffentlicher Mittel für private Zwecke.



    http://www.nytimes...nt-funds.html?_r=0

    Der Rechte Sektor ist politische Partei im Parlament. Der Anführer ist offiziell Berater des Generalstabes. Ebenso ist der Rechte Sektor auch ein militärisches Freiwilligenbataillon und hält sich SA-ähnliche Gruppen von Schlägern. Was so in der Ukraine klar Verfassungswidrig ist.

    Der Rechte Sektor hat gerade (mal wider) die Opposition mit Gewaltanwendung überfallen (was in der Westpresse totgeschwiegen wird).



    Mit dem Ziel die Zulassung der größten Oppositionspartei zu den Kommunalwahlen zu verhindern.

    Siehe auch RT und OSCE https://www.youtub...atch?v=PA-21Di95xg http://www.rtdeuts...cks-in-charkiw-an/ http://www.osce.org/ukraine-smm/175826 http://www.osce.org/ukraine-smm/175826

    In die Tötungen von über 40 Oppositionellen und Gewerkschaftern in Odessa Mai 2014 ist der Rechte Sektor zumindest verwickelt.



    https://www.youtub...atch?v=LXRIuVNGmds

    Da die Polizei bei Aktionen des Rechten Sektors gegen die Opposition nie einschreitet muss man von Planmäßiger Unterdrückung der Opposition ausgehen -- durch teilweise auch tödliche Gewaltanwendung.

    Die neue Regierung ist genauso korrupt wie die alte:



    http://www.spiegel...gen-a-1046346.html

  • " Und im Donbass, in den Regionen Lugansk und Donezk, hatten unter tatkräftiger Mithilfe Moskaus Kampfhandlungen zwischen prorussischen Kämpfern und der ukrainischen Armee begonnen."

     

    Och bitte , Frau Oertel , haben Sie bzw. hat die Taz das immer noch nötig ? Viele Leser haben ein Gedächtnis . Nach meinem ist es so gewesen , dass die Kampfhandlungen begannen , als die ukrainische Armee mit allem , was sie hatte (Panzer , Artillerie , Raketenwerfer , Hubschrauber , Flugzeuge) gegen die von den Separatisten beherrschten Gebiete des Donbass vorgerückt ist und ziemlich hemmungslos auch in die Städte reingeballert hat . Zum Zwecke der "Verteidigung" bzw. Rückgewinnung der nationalen territorialen Integrität (!). Letztere scheint ja bis heute für die Kiewer Demokraten der höchste aller Werte zu sein , wenn man sieht , was dafür alles geopfert wird oder verkommt .

     

    Und die EU und ihre "Verantwortung" ? Die EU hat sich mit ihrer Ukraine/Russlandpolitik voll in die Sch***e geritten . Wenn sie könnte , würde sie die Ukraine wohl liebendgerne wie eine heiße Kartoffel ausspucken (... nur so mein Gefühl) .

  • Für USA /Westen ist ein Kaputtes zerstörtes Land viel lieber als ein norales Land das nicht USA-hörig ist, oder noch schlimmer, ein Russen-Freund!

    So haben sie z.B. in Kauf genommen ein ganzes Afghanistan oder Vietnam kaputt zu machen als ein winziger geopolitischen Vorteil für Russland zu tolerieren.

    Und Flüchtlinge?

    Europa etc. machen das schon!

  • Leider keine guten Nachrichten aus der Ukraine und ich fürchte, das wird noch lang so bleiben.

     

    Ein Wandel kann wohl nur durch eine Bewegung aus dem Volk heraus geschehen. Doch wo sind die Menschen vom Maidan, wenn jetzt nur der Rechte Sektor maschiert?

     

    Und warum reden deutsche Politiker mit Faschisten und warum überweisen wir so viel Geld und schauen Waffenlieferungen in der Ukraine zu?

     

    Fragen über Frage. Was für eine verrückte, verkorkste Welt in der wir leben.

  • Ich kenne auch ein anderes Land, in dem gegen Journalisten Verfahren wegen "Staatsverrats" angestoßen werden, die kommunistische Partei bereits in den 50er Jahren verboten und gegen eine weitere, offensichtlich staatsfeindliche Partei, ein Parteiverbotsverfahren durchgeführt wurde und bald wieder durchgeführt wird. Würden sie diesem Land die Nähe zu "westlichen" Werten absprechen? Statt die Ukraine am demokratischen Ideal zu messen, sollte die Richtung der Veränderungen und Entschlossenheit der Akteure bewertet werden. Auch wenn es vom hohen demokratischen Ross nicht so aussieht: Der Wille und die Fähigkeit, nicht demokratische Vorgänge anzuprangern - so wie es der Präsident und die ukrainischen Medien getan haben - ist bereits ein erster Schritt. Finden Sie das in den Zeiten von Yanukowitsch oder im heutigen Russland. Natürlich werden sie die Geister des alten Systems nicht von heute auf morgen los. Zur Relativierung des Anspruchs reicht auch hier ein Blick nach Deutschland, wo z.B. ehemalige Richter und Unterstützer des Nazi-Regimes bis zur Ihrem Tod ihre standesübliche Renten erhalten haben.

  • Tja, "was sagt uns das alles?": schon mal Flüchtlingsunterkünfte für Ukrainer bauen oder Till Schwaiger bewaffnen um, wie im "Russenfilm" (alter DDR-Jargon, wo die Kalaschnikow ohne Magazinwechsel), im Osten Ordnung und Menschlichkeit zu schaffen?

  • Die gelehrten und die Ukrainer selbst streiten sich bis heute, ob die schwere Hungersnot, die 1932/33 verschiedenen Schätzungen zufolge bis zu 7,5 Millionen Tote gefordert haben soll, von Stalin absichtlich herbeigeführt wurde, oder ob sie "nur" ein Ergebnis seiner verfehlten Politik und einer verheerenden Dürre war.

     

    Seit 1991 bemüht sich die Ukraine, den sogenannten Holodomor als Völkermord anerkennen zu lassen. Russland versucht, das zu verhindern. Der Streit ist hilfreich wie ein Kropf, finde ich. Sinnvoller wäre es, die Experten beider Seiten würden sich darüber einigen, welche Lehren zu ziehen sind aus der Vergangenheit.

     

    Was immer ganz genau passiert ist damals, fest steht, dass Katastrophen nicht dadurch zu verhindern sind, dass Einzelne ihren Dickschädel mit Gewalt durchsetzen gegen Widerstände. Dürren gab es immer wieder, auch in der Ukraine. Die Bauern wissen, wie man damit umzugehen hat. Ohne Stalins Zwangskollektivierung wäre dieses Wissen womöglich hilfreich gewesen. Leider gehen Diktatoren immer wieder davon aus, dass sie die einzig wahren Weisen sind. Nicht nur in Russland. Auch in der Ukraine. Und anderswo.

     

    Nein, es ist nicht zu erwarten, dass eine der kriegführenden Parteien allein die Ukraine aus der Krise holt. Es war ein schwerer Fehler, DEN Westen dermaßen Partei ergreifen zu lassen angesichts einer vermeintlichen Gunst der Stunde. Jeder, der sich etwas sagen lässt von der Geschichte, konnte das Risiko erkennen. In der Ukraine, in Syrien, im Irak und auch sonst überall, wo es gerade brennt. Sie wollten ja nicht hören, die Militär- und die Polit-Strategen mit dem verkappten Diktatoren-Gen. Nun müssen ihre Völker fühlen.

  • Frau Oertel. Was haben Sie eigentlich von einem Personal erwartet, dass schon vor dem Maidan auf die eine oder andere Art in das ukrainische System der Oligarchenherrschaft eingebunden war? Ein Blick auf die Lebensläufe der wichtigsten Akteure zeigt doch, wie eng sie mit der Oligarchie verbunden sind. Von diesen Leuten die notwendige grundlegende Umgestaltung zu erwarten war, gelinde gesagt, naiv. Das Ergebnis des Maidan ist letztlich lediglich eine Umverteilung der Macht innerhalb der Oligarchenkaste. Dem ukrainischen Volk hat er nichts Gutes gebracht.

     

    Und das war ab dem Zeitpunkt abzusehen, an dem die jetzigen "Politgrößen" begannen, die Bühnen auf dem Maidan zu dominieren und sich die Vertreter der "westlichen Wertegemeinschaft" drängelten, diesen Leuten die Hände zu schütteln und sie zu unterstützen.