Debatte Industrie und Migration: Geschäftsfeld Flucht
Die EU vervielfacht ihre Rüstungsausgaben – und die teilnehmenden Industrien entdecken ein neues Testfeld: Geflüchtete.
M an könnte es schon fast eine Gewohnheit des französischen Präsidenten nennen – im September hat Macron an der Pariser Sorbonne die Marschrichtung der EU benannt: Zu Beginn des kommenden Jahrzehnts solle Europa über eine gemeinsame Einsatztruppe, einen gemeinsamen Verteidigungshaushalt und eine gemeinsame Handlungsdoktrin verfügen. Wenige Wochen später, im Dezember 2017, unterzeichneten 25 EU-Mitgliedsstaaten einen Vertrag, der die Grundlage für eine gemeinsame Militärpolitik schuf: den Vertrag zur Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Pesco). Ein Vertrag über militärische Zusammenarbeit. Man könnte sagen, der erste Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Armee.
Die Notwendigkeit dazu sehen europäische Thinktanks schon seit Längerem. In wissenschaftlichen Papieren skizzieren die Experten immer wieder ihre Einschätzung der Sicherheitslage: Im Osten verletze Russland massiv die Souveränität von Nachbarländern und dringe regelmäßig in den Luftraum und die Hoheitsgewässer von EU-Mitgliedstaaten ein. Von Süden her erreichten Europa die Auswirkungen gescheiterter Staaten und organisierter Kriminalität. Im Nahen Osten wirkten sich Terrorismus und Krieg destabilisierend aus. Das Fazit: „Eine militärische Konfrontation ist […] ein reales Zukunftsrisiko.“
Mit anderen Worten: Die Apokalypse steht bevor, kräftig befördert durch Donald Trump, der den Verbleib in der Nato infrage stellt und mehr (europäische) Ausgaben für das Militärbündnis fordert – und gleichzeitig durch die aufgerüsteten Autokraten rund um Europa. Als letztes Mosaiksteinchen: Die Millionen rechtloser Flüchtlinge und Migranten, die sich in und um den Failed State Libyen befinden. Das perfekte Testfeld, um ungeachtet von Menschenrechten neue Ideen auszuprobieren. Schließlich steht kein Thema bei den Regierungen Europas stärker im Vordergrund.
Doch die Industrie wäre nicht die Industrie, wenn sie nicht Chancen erkennen würde. Gerade Italien beziehungsweise die italienische Rüstungsfirma Leonardo beteiligt sich eifrig an den Bemühungen zur Unterbindung der Flüchtlingskrise. Geplant ist der Aufbau einer Seenotrettungszentrale in Libyen, die der existierenden in Rom die Arbeit abnehmen würde. Man könnte auch formulieren: die den Milizen und Schleusern wieder Sklaven zurückbringen könnte. Oder die Ausstattung der libyschen grenzschützenden Streitkräfte: Da können europäische Rüstungsfirmen noch einiges an veralteter Hardware absetzen. Oder im Auftrag der italienischen Regierung libysche Küstenwachenboote wieder in Schuss bringen, damit die Milizen wieder effektiv unterwegs sein können.
Verunsicherung verändert Europa
Dass die EU damit UN-Waffenhandelssanktionen unterläuft, scheint bedeutungslos. Doch diese Handlungsfelder sind der Industrie nicht wegweisend genug. Schließlich stehen durch den im Jahr 2016 verabredeten EU-Verteidigungsfonds Edap Hunderte Millionen auf Abruf bereit. Und was böte sich da besser an, als diese Technologien in einem Areal zu testen, das einer Blackbox gleicht, in die kaum jemand Einsicht hat? Die Libyer haben sich schließlich schon daran gewöhnt, dass neben den lokalen Milizen auch ab und zu italienische oder französische Elitekommandos unterwegs sind.
Doch lukrativer und prestigeträchtiger sind für Rüstungskonzerne wie Thales oder Leonardo neue Technologien wie die Überwachung durch Drohnen oder Satelliten. Wie etwa in einem europäischen Pilotprojekt, an dem Frontex beteiligt war, wo per Drohnen und Satelliten Schiffbrüchige gesucht oder die Übergabe von Drogen auf hoher See beobachtet werden konnten. Die Verantwortlichen waren zufrieden – so sehr, dass die Technologie gleich in die EU-Operation Themis überführt wird, mit der die Schleuser und potenzielle Terroristen bekämpft werden sollen. Ein Experte wie der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko bemerkt dazu: „Das geht weit über die Grenzen früherer Missionen hinaus.“
Rüstungskonzerne wie Thales denken ja nicht nur klassisch militärisch, sondern entdecken auch ihre weiche Seite, wollen gegen gutes Geld auch die perfekten Flüchtlingsbehausungen liefern. Ironie scheint ihnen fremd. Tatsächlich arbeiten Spitzenteams der Rüstungsindustrie schon lange daran, die perfekte Kamera für die neue Welt der Fernüberwachung zu erschaffen. Auf den Bildern, die ihre Prototypen liefern, teilweise aus Dutzenden Seemeilen Entfernung, ist der einzelne Mensch nur ein silbriges Datenartefakt. Das Individuum verschwindet, wichtig ist nur seine Wärmesignatur, die ihn von der Umwelt unterscheidet und durch die gerade große Menschenansammlungen überall schnell sichtbar werden. Viele Menschen auf einem Schlauchboot etwa. Oder Terroristengruppen. Oder Trupps von Soldaten.
Die Verunsicherung seiner Bürger verändert Europa. Der Gedanke „Nie wieder Auschwitz“, den etwa der überzeugte Europäer Robert Menasse in seinem Roman „Die Hauptstadt“ als Motor für die EU als friedenssicherndes Bündnis ansieht, tritt immer mehr in den Hintergrund. Selbst bei Erasmus, das den meisten als europäisches Studenten-Austauschprogramm geläufig ist, taucht jetzt der Bereich Verteidigung bei den Ausschreibungen auf. Aber schließlich scheint Eile geboten.
Statt immer nur afrikanischen Nationen Geld in den Rachen zu werfen, damit diese Flüchtlinge stoppen, wollen manche Europäer es lieber selbst krachen lassen: Mitte Mai des vergangenen Jahres plädierten De Maizière und sein italienischer Amtskollege für eine EU-Grenzschutzmission zwischen Libyen und Niger. Den Gedanken hatte auch schon der (ehemalige) Chef der Söldnerfirma Blackwater, Eric Prince. Allerdings wollte er dafür Söldner einsetzen – angeblich fand Trump diesen Vorschlag charmant. Die Zukunft Europas wird sich also tatsächlich am Umgang mit den Flüchtlingen entscheiden: entweder Festung der Einsamkeit oder Zuflucht der Hoffnung.
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