Debatte Folgen des Arabischen Frühlings: Der Effekt von Schmetterlingsschlägen
Mohamed Bouazizis Selbstverbrennung 2010 war ein Signal des Aufbruchs. Das zeigt – trotz vieler Rückschläge – immer noch Wirkung.
V or fünf Jahren, am 17. Dezember 2011, zündete sich der tunesische Straßenhändler Mohamed Bouazizi selbst an. Im übertragenen Sinne war die verzweifelte Aktion des Gemüsehändlers ein Flügelschlag, der den arabischen Frühling mit all seinen Folgen ausgelöst hat.
Der amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Norton Lorenz hatte mit seiner berühmten Frage „Kann ein Schmetterlingsschlag in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen“, die Theorie des „Schmetterlingseffekts“ begründet. In einem empfindlichen, instabilen System können kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen enorme Folgen nach sich ziehen. Und instabil war das arabische System.
In der Tat hat der Sturz der arabischen Diktatoren auch in Europa mit der Flüchtlingskrise und den Anschlägen in Paris und anderen Orten einen Tornado ausgelöst. Der Effekt von Schmetterlingsschlägen kennt offensichtlich keine Grenzen, das müssen auch jene erkennen, die in Europa immer noch hoffen, sich abschotten zu können. Denn ob wir wollen oder nicht, die europäischen und arabischen Staaten sind eine Schicksalsgemeinschaft. In unserer benachbarten arabischen Welt liegt unsere größte Tankstelle, dort entscheiden sich Fragen, die die europäische Sicherheit betreffen, dort wird die Verzweiflung als wesentliches Motiv immer größer sein als der höchste Abwehrzaun.
„Al-Gar aham min al-Dar – Der Nachbar ist wichtiger als das Haus“, lautet ein arabisches Sprichwort. Will heißen, wenn du eine Wohnung suchst, schau dir zuerst an, neben wem du einziehen möchtest. Das Problem ist, dass das europäische Haus und die arabische Nachbarschaft eine feste geografische Größe ist, deren Mietvertrag sich nicht kündigen lässt.
Oft blutig und brutal
Bouazizi hat einen Prozess in die Wege geleitet, in dem die gesamte arabische Welt in zunächst hoffnungsvolle Bewegung geraten ist. Dann hat er auch Bürgerkriege wie in Syrien oder im Jemen, Staatsauflösungen wie in Libyen und vermehrte Unterdrückung wie in Ägypten verursacht. Überall werden die Gesellschaftsverträge und politischen Grundlagen derzeit neu ausgehandelt. Nicht, wie anfangs gehofft, auf friedliche, demokratische Weise, sondern oft blutig und brutal. Das Wegziehen des Deckels hat Konflikte ausbrechen lassen, die unter der Oberfläche schon lange gebrodelt haben, etwa der Streit über die Rolle von Religion in Staat und Politik. Es sind Konflikte, die ausgetragen und ausgehandelt werden müssen. Ein Ende dieses Prozesses, der Jahre dauern wird, ist nicht abzusehen.
Die Bilanz dieses Jahres sieht eher hoffnungslos aus. Systeme kollabieren, heilige Krieger breiten sich aus, und ein nicht unwesentlicher Teil der arabischen Welt packt seine Taschen. Der syrische Bürgerkrieg eskaliert. In Libyen breitet sich der IS immer mehr im Windschatten eines Kampfes zweier Machtzentren aus, die sich beide als legitime Regierung ansehen. Im Jemen gibt es bisher in einem Krieg zwischen alter Regierung, unterstützt von der saudischen Luftwaffe und den Huthi-Rebellen, 6.000 Todesopfer. In einem der ohnehin schon ärmsten Länder der Welt hat der Krieg eine humanitäre Katastrophe ausgelöst, in der vier Fünftel der 21 Millionen Jemeniten nicht mehr ohne Hilfslieferungen über die Runden kommen.
Und doch gibt es zum Ende des Jahres ein paar Funken Hoffnung. Denn überall macht sich das Gefühl breit, sich festgefahren zu haben, ob bei Regime und Rebellen in Syrien oder bei den Saudis und ihrem Jemenkrieg oder bei den streitenden Machtzentren in Libyen. Das, gepaart mit der Flüchtlingskrise und den IS-Anschlägen, hat dazu geführt, dass die arabische Welt nun international wieder ganz oben auf der Tagesordnung steht. Daraus folgt die Dringlichkeit, dass statt Waffen nun doch wieder die Politik übernehmen sollte.
In einer UN-Syrien-Resolution wurden jetzt alle Seiten auf eine politischen Lösung eingeschworen. Die entsprechenden Gespräche sollen im Januar beginnen. Wichtige Kernfragen, ob mit oder ohne Assad verhandelt wird und wer denn nun die Opposition am Verhandlungstisch repräsentieren soll, sind aber noch nicht geklärt. Aber hinter den Kulissen gibt es Fortschritte.
Schaut nach Libyen
Neben Syrien dürfte sich der Blick nächstes Jahr mehr nach Libyen verlegen, wo der IS im Machtvakuum wächst und gedeiht. Heute wird bereits darüber spekuliert, ob die IS-Führung nach Sirte, in den einstigen Geburtsort Gaddafis, umzieht, wenn es im syrischen Rakka militärisch zu eng wird.
Unter der Führung des deutschen Diplomaten Martin Kobler wurde jetzt zwischen den zerstrittenen libyschen Parteien in Tripolis und Tobruk ein Friedensabkommen unterzeichnet. Ob es hält, was es verspricht, und eine Regierung der Nationalen Einheit zusammengezimmert werden kann, weiß derzeit niemand zu sagen. Gelingt es, könnte diese Regierung vielleicht nicht nur den libyschen Staat wieder funktionstüchtig machen, sondern auch gemeinsam gegen die Dschihadisten des IS vorgehen. Schlimmstenfalls hat Libyen dann drei statt zwei Regierungen.
Und Ende dieses Jahres trafen sich auch die jemenitischen Opponenten in der Schweiz. Erstmals saßen Vertreter des Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi, der in Aden residiert und die Huthi-Rebellen sowie Repräsentanten des ehemaligen Präsidenten Ali Abdulla Saleh, der diese mit seinen Restposten des alten jemenitischen Sicherheitsapparats unterstützt, an einem Tisch. Doch zunächst gelang es den Unterhändlern noch nicht einmal, einen eigentlich vereinbarten siebentägigen Waffenstillstand durchzusetzen. Die Verhandlungen, die angeblich trotzdem ein paar Fortschritte erbrachten, wurden unterbrochen und pausieren bis Anfang nächsten Jahres, der Krieg geht unvermindert weiter.
All diese Gespräche, Waffenstillstands- und Friedensversuche, ob im Falle Syrien, Libyen oder des Jemen, bestehen aus mühevoller Kleinarbeit. Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Aber es sind die ersten ernsthaften Versuche, die durch den Schmetterlingsschlag Bouazizis ausgelösten Stürme ein wenig zum Abflauen zu bringen.
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