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Debatte Dieselaffäre und WahlkampfDeutschland, aufwachen!

Kommentar von Jagoda Marinić

Was Deutsche vom Balkan lernen können: politisch werden. Der Dieselskandal hat gezeigt, dass man sich nicht auf „Made in Germany“ verlassen darf.

Zzzzzzzzzzz… Foto: imago/DRAMA-Berlin.de

Wir sind hier in Deutschland und nicht auf dem Balkan!“ Das ist ein Satz, den ich zig Mal gehört habe. Die einen meinten ihn witzig, die anderen genau so, wie er klingt. Dank der Dieselaffäre könnten mir diese abfälligen Bemerkungen eine Weile erspart bleiben: Wer im Glashaus sitzt, soll schließlich nicht mit Steinen werfen. Wobei, so ein Deutscher denkt vielleicht, sein Glas sei „Made in Germany“ – und haut trotzdem drauf. Es gibt diesen deutschen Hang zur Überheblichkeit. Man setzt einfach den eigenen Standard als gesetzt und geht davon aus, jeder andere würde sich für so einen deutschen Standard ein Bein ausreißen. Die Schadenfreude der anderen, wenn solche Hochmütigen fallen, ist groß.

In regelmäßigen Abständen fand sich bisher einer, der ach so profunde Kenntnisse darüber zu haben glaubte, wie es auf dem Balkan zugeht. Seine klugscheißerischen Behauptungen beendete so einer meist mit: „So geht es bei uns in Deutschland nicht zu!“ Mein Lieblingsabschlusssatz dieser Selbstüberschätzungstiraden: „Ich weiß nicht, wer zugelassen hat, dass Kroatien in die EU kommt.“ Selten hab ich dann geantwortet: „Deutschland war's, damit sich die Drogeriemärkte dm und Müller auch dort Territorialkämpfe liefern können.“ Denn wenn man so etwas sagt, meint dieser Typus Deutscher, man stilisiere sich nun zum Kolonialopfer – dabei sei Freihandel doch vor allem eine Art Entwicklungshilfe für das neudemokratische Land.

Mit dieser Vorgeschichte ist die sogenannte Dieselaffäre für mich eine Art Fest. Der Imagefilm des rechtschaffenen Deutschen hat einen Riss bekommen, und es könnte das Unerwartete geschehen: dass sich dieses Deutschland im Wahljahr tatsächlich noch mit sich selbst auseinandersetzt. Viele hierzulande meinen, man könne über die Pressekonferenzen der Regierungssprecher Wichtiges über die Lage der Nation erfahren. Doch man schluckt nicht ungestraft die Kröten, die einem in sauberen Pressemeldungen serviert werden. Um Prinzen zu küssen, muss man schon auch mal Hintergrundberichte lesen.

Der große Unterschied zwischen den Bürgern meiner zweiten Heimat und jenen in Deutschland? Die Menschen auf dem Balkan wissen um die realen Zustände in ihren Ländern. Sie gehen also davon aus, dass ihre Regierungen nicht ohne den Druck einer kritischen Öffentlichkeit im Interesse der Bürger handeln werden. Die große Tragik Exjugoslawiens ist derzeit : Die Bürger zweifeln inzwischen daran, dass selbst mit dem Druck der kritischen Öffentlichkeit in ihrem Interesse gehandelt wird. Sie gehen grundsätzlich davon aus, es werde im Interesse des Machterhalts, des Machtzuwachses, der Besoldungsgruppen und der Reichen gehandelt.

Wahljahr unter Vollnarkose

Man kann sie nun alle paranoid schimpfen, doch ihre Abgeklärtheit zeugt von einem verwundbaren Aspekt moderner Demokratien. Wenn die Eliten zu unerreichbar wirken, zu verbandelt in ihrem Eigeninteresse, kippt das gesellschaftliche Zusammenleben in eine Art simulierte Demokratie: Man spielt nur noch Staat und Volk, man spielt Wahl und Wahloptionen – und hofft ansonsten, dass der Staat einen in Ruhe die Familie über die Runden bringen lässt.

Das ist der Punkt, an dem ich Deutschland nicht ankommen sehen will. Und deshalb muss jetzt schonungslos aufgearbeitet werden. Deutschland bestreitet sein Wahljahr bisher unter Vollnarkose. Eines Tages wacht man jedoch auf und wird nachvollziehen müssen, was unterdessen passiert ist. Die Rehabilitation ist dann das Gegenteil von Tiefschlaf: Sie ist ein harter Kampf – meist um den alten Status quo vor der Narkose. Ein zäher Kampf, der viele Bürger in den Ländern Exjugoslawiens zynisch zurückgelassen hat – oder resigniert.

Auch in Deutschland haben wir uns jahrelang viel vorgelogen. Das Beschwichtigen ist der Politikstil der Ära Merkel. Sie lässt auch in der Dieselaffäre eine große Lücke – und wird irgendwann an irgendeinen Pult treten und irgendeinen Satz zur Sache mit dem Diesel sagen, an den sich am nächsten Tag kein Bürger erinnern wird. Mit prägnanten Sätzen hat Merkel zudem eine traumatische Erfahrung gemacht – es kann also nur schlimmer werden.

„Dieselgate“ sollte die Demokratie beleben. Wer sich die Passagen der Rede ansieht, die Niedersachsens Ministerpräsident Weil auf Wunsch von VW geändert hat, der stolpert nicht allein über die Änderungen, sondern vor allem über die tote Sprache. Eine Sprache der Politik, die versucht, bloß keinen Affekt auszulösen, ist keine Sprache der Politik. Der Sprechakt als politisches Handeln wird bei Weil zur Farce. Da steht zum Beispiel dieser hohle Satz: „So erklärt es sich auch, dass wir alle tief betroffen und entsetzt darüber sind, dass bei Volkswagen über etliche Jahre hinweg Abgaswerte manipuliert worden sind.“ So entsetzt sind wir nun alle, lieber Herr Weil, dass Sie Ihre Rede dann gleich von VW mitmanipulieren lassen, damit sie weniger Wutabgase auslöst.

Kathartischer Moment der Aufklärung

Die Aufrichtigkeit ist der Wert, der im Abgasskandal am meisten korrumpiert wurde. Dieser Skandal sollte nicht mehr und nicht weniger sein als der Super-GAU für die Unaufrichtigen. Andernfalls kriegen wir nur Erfolg Simulierende – und eine simulierte Demokratie. Ich habe sie jedenfalls satt: die Lügen. Die Perfekten. Die, die mit allem durchkommen, weil unverschämt angeblich gewinnt.

Der Skandal muss zum kathartischen Moment der Aufklärung werden: Die bedingungslose Aufdeckung deutscher Verstrickungen zwischen Politik und Wirtschaft, eine Chance zur Demaskierung der Megamanager mit ihren Megagehältern, unkontrollierte Auswüchse des neoliberalen Zeitalters. Wie war das noch? Die sind ihr Geld wert!

Na, hoffentlich waren sie so viel wert, dass sie ihre Strafen künftig mit dem angehäuften Geld begleichen können. In Strafmaße mische ich mich allerdings nicht ein, dafür haben wir in Deutschland Gerichte. Es heißt, die funktionierten noch ganz gut. Für mich persönlich ist dieser Dieselskandal dennoch ein Fest, weil ich nun sagen kann: Willkommen in der Balkan-Familie, liebes Deutschland! Wer hat euch nur in die EU gelassen?

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14 Kommentare

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  • Und bitte nicht unter den Tisch kehren:

    Bei allen Skandalen waren wahre Christen tätig!!

  • Ich finde, die ''Balkanisierung'' Deutschlands macht doch gute Fortschritte. Wie gerade sichtbar wird. Da setzt sich die Politik mit Betrügern an einen Tisch und am Ende macht dann das Kartell die Ansage, wie es weitergeht.

  • Deutschland aufwachen?

     

    Der Witz ist sehr gut!

  • Bei so viel Deutschfeindlichkeit fragt man sich, wie lange Sie auf die Gelegenheit für diesen Artikel gewartet haben müssen.

    Der Dieselgate-Skandal ist peinlich und hat unserer Auto-Industrie nachhaltigen Schaden zugefügt.

    Aber deshalb geht das Schiff "Made in Germany" noch lange nicht unter. Wir machen die Schotten dicht und bleiben auf Kurs. Anders als der Balkan.

    • 8G
      82430 (Profil gelöscht)
      @FrankUnderwood:

      Der Dieselgate-Skandal ist peinlich?! Himmel!

      Peinlich ist, wenn man als verschüchterter Teenager vor lauter Nervosität in die konzentrierte Stille einer Mathe-Klausur hineinfurzt. Aber Menschen, die aus Profitgier und Verantwortungslosigkeit im unfassbar großen Stil nicht weniger als die Existenz dieses Planeten aufs Spiel setzen, sind … eine Katastrophe!

      Da geht es nicht mehr um irgendeinen albernen Nationalstolz oder sonstigen masturbativen Käse, da geht es um die Frage, wie wir das Leben auf dieser Erde eigentlich gestalten möchten. Es könnte nämlich sein, dass diese Welt nach unserem Ableben noch gebraucht wird. Der Kapitalismus in dieser Form ist keine brauchbare Lösung. Und dichte Schotten auch nicht. Lassen Sie uns endlich neue Wege gehen.

      • @82430 (Profil gelöscht):

        Natürlich darf man auf dieses Land Stolz sein!

        Gerade sich als mitte-links einordnet, müsste mit der Entwicklung seit dem WWII mehr als zufrieden sein. Nicht alles ist perfekt und wir sollten Kritik äußern damit wir uns verbessern. Aber im Vergleich mit anderen Ländern stehen wir moralisch und wirtschaftlich wesentlich besser dar.

         

        Wollen Sie etwa Björn Höcke & Co. das Deutsch sein überlassen?

        Ich nicht!

        Wir sind Deutschland und nicht irgendwelche Reichsbürger von der AfD.

      • @82430 (Profil gelöscht):

        Neue Wege gehen - welche denn?

         

        Damit meinen sie doch bestimmt nicht Planwirtschaft, Sozialismus oder eine "Alle sind gleich"-Ideologie.

        Das ist ja - soweit ich das im Geschichteunterricht gelernt hab - massiv gescheitert. Und in Venezuela läufts auch nicht toll. Erdölland Nr.1 hat kein Klopapier.

         

        Und um den Planeten brauchen sie sich keine Sorgen machen. Der wird bestimmt länger leben als die Menschheit - egal ob sie nun Auto fährt oder Tofu frisst.

        • @Thomas_Ba_Wü:

          War ja klar, dass als Antwort irgendjemand "Kapitalismus ist alternativlos" formuliert. Ist der Staatskapitalismus die einzige Alternative, die Sie sich vorstellen können?

           

          Da Sie pedantisch daraufhinweisen, dass der Planet weiterexistieren wird - was antworten Sie denn auf Matthists sinngemäße Anmerkung, dass solche Wirtschaftspolitik die Zerstörung des Ökosystems (und massenhafte Tötung von Tieren) und damit die Existenzgrundlage der Menschen in Kauf nimmt?

      • @82430 (Profil gelöscht):

        @ Matthist Danke, das muss man diesen Menschen öfter mal sagen, wie borniert sie sind, wird halt wenig nützen. Aber es ist gut, so was zu lesen, wie Du schreibst, sonst verzweifelt man irgendwann.

  • Nunmal nicht so schnell mit der Schadenfreude, Frau Marinic.

    Auf dem "Corruption Perceptions Index" von Transparency International (TI) steht Deutschland auf Platz 10 und Kroatien auf Platz 55 (von 176).

    Da ist also noch Luft nach oben für den Balkan.

     

    Warum ? Sehen Sie sich einfach mal die Finanzen von TI an. Große Teile des Budgets dieser N(!)GO stammen aus dem Bundeshaushalt. Und auch andere Top10-Staaten der Rangliste finanzieren TI aus dem Staatshaushalt. So geht Korruptionsbekämpfung :)

    • @jhwh:

      Wer weiß, vielleicht ist zukünftig von Dieselrepublik analog zur Bananenrepublik die Rede, wenn Deutschland gemeint ist ;)

  • 9G
    970 (Profil gelöscht)

    Dazu hat's Dieselgate gebraucht? Korrupt war doch schon die Regierung Kohl...

    • 3G
      39167 (Profil gelöscht)
      @970 (Profil gelöscht):

      Wann war eine Regierung nicht korrupt?

    • 8G
      81331 (Profil gelöscht)
      @970 (Profil gelöscht):

      ...tja, aber wir leben im hier und jetzt. Was hilft der Vergleich mit der Regierung Kohl, wenn über 60 % der Deutschen Angela 'Mutti' Merkel toll finden und somit im Herbst ihr Kreuz wieder bei CDU/CSU machen??!