Debatte Burn-out: Mode oder Aufschrei
Viele belächeln das Ausgebranntsein als Managerkrankheit. Doch die vielen Burn-outs bedeuten mehr: Die Erschöpfung bedroht die Demokratie.
B ereits vor 20, 30 Jahren war Burn-out als „Helfersyndrom“ unter Sozialarbeitern ein bewegendes Thema, also in einer Nische. Heute lässt es sich aus den Zentren dieser Mediengesellschaft nicht mehr vertreiben.
Der Kultursoziologe Ulrich Bröckling stellt fest: Zwar werde von Fachleuten unentwegt gestritten, ob Burn-out ein eigenes Krankheitsbild sei, nur ein anderes Wort für erschöpfungsbedingte Depressionen oder nur eine von der Therapie- und Wellnesswirtschaft erfundene Mode, jedoch stehe fest: Burn-out ist „ein Diskursereignis von geradezu epidemischen Ausmaßen“.
Seit einigen Jahren analysiert der DGB, wie sich der „Psychostress“ unter den Beschäftigten entwickelt. Die Erscheinungsformen: mehr Leistung in weniger Zeit, kürzere Taktzeiten an Montagebändern, Präsenzdruck bei virtuellen Teams, ständige Um- und Neustrukturierungen in Unternehmen, ein unauflösliches Ineinanderübergehen von Arbeits- und Privatleben, der Arbeitnehmer als „Arbeitskraftunternehmer“, so der Industriesoziologe Günther Voß, der Zwang zur „permanenten Selbstoptimierung“ (Bröckling).
war bis 2006 Chefredakteur der Frankfurter Rundschau. 2011 war er als Autor an der „Bild“-Studie der Otto-Brenner-Stiftung beteiligt. Er lehrt an der Uni Kassel und der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Das Syndrom der Erschöpfung und des Ausgebranntseins hat die Masse der Beschäftigten erreicht.
Es trifft alle Schichten
Burn-out trifft also alle Schichten: die, die am besten, und die, die am schlechtesten verdienen, Führungskräfte wie Arbeiter am Band. Trotzdem bleibt Raum für „feine Unterschiede“ (Pierre Bourdieu): Burn-out gilt als die Erschöpfung der Leistungsstarken, eine Art Heldenabzeichen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft; depressiv sind nur die Antriebslosen, Schwachen und latent Nutzlosen.
Es gesellt sich zu den sprachlichen Unterschieden noch ein veritabler materieller: Die Belastungen der oberen Schichten, etwa im Management, sind rein psychischer Natur. Besonders bei prekär Beschäftigten speist sich die emotional-nervliche Überlastung dagegen aus zwei Quellen: dem Arbeitsdruck und den Sorgen, die sich aus einer materiell tendenziell unsicheren Lage ergeben.
So sehen Soziologen wie Sighard Neckel, Universität Frankfurt, die Ursache in der sich verstärkenden Wechselwirkung von drei zeitgleichen Entwicklungen: Die Politik hat die soziale Absicherung so verringert, dass sich die Menschen angesichts der starken Unsicherheit an den Finanzmärkten allein verantwortlich um ihre finanzielle Sicherheit in existenziellen Fragen wie Alter und Krankheit kümmern müssen. Die normale Arbeit wird anstrengender und unsicherer. Und der dritte Punkt: Die seit Jahren herrschenden Managementmethoden greifen nicht nur nach der Zeit und der Arbeitskraft der Beschäftigten, sondern auch nach deren Psyche.
Diese innere Landnahme durch die stummen Mechanismen der Profit- und Wettbewerbslogik ist die Signatur dieses relativ neuen kapitalistischen Arbeitslebens. Der Besteckkasten ist gut gefüllt mit Instrumenten, die geeignet sind, in das Innerste vorzudringen: Deadlines, Milestones, Projekttermine, Zielvereinbarungen.
IG Metall muss umdenken
Was tun? Eine Antwort: Eine wachsende Beraterindustrie hilft – im Verbund mit der Pharmaindustrie – Unternehmen und Verwaltungen, die wichtigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, längst nicht nur auf der Führungsebene, so zu formen, dass sie ohne Änderung der Verhältnisse weiterfunktionieren.
Eine andere Antwort: Die Gewerkschaften setzen bei den Arbeitsbedingungen an. „Gute Arbeit“ und „Anti-Stress-Verordnung“ stehen im Mittelpunkt von Kampagnen und Verhandlungen. Was dabei auffällt: Große Schritte wagen die Gewerkschaften nicht. Denn: Wenn tatsächlich Arbeitszeiten und Arbeitsintensität Ursachen sind, dann sind Anti-Stress-Verordnungen richtig, aber die Entschleunigung via Arbeitszeitverkürzungen wäre noch richtiger. Wo, wenn nicht in den hochproduktiven und hochprofitablen Exportbranchen, organisiert von IG Metall und IG BCE, wäre eine Strategie der kürzeren Arbeitszeiten mach- und finanzierbar?
Angekettet als Prominentenschicksal in Talkshows oder in Unternehmen als Frage der Arbeitsplatzgestaltung, ist die Perspektive auf das Ganze bisher nur selten in den Blick geraten: Braucht diese Demokratie eine Anti-Stress-Verordnung? Denn wie sollen Millionen sich im Beruf buchstäblich erschöpfende Menschen eine Gesellschaft mitgestalten?
Verkehrte Aufklärung
Um die geistig-ideologischen Schäden richtig zu würdigen, sei an den Kern des Prozesses erinnert. Die Unternehmen und ihr Management greifen mit Prinzipien nach der Psyche der Beschäftigten, die aus der Welt von Aufklärung und Demokratie stammen: Autonomie, Selbstorganisation, Selbstverwirklichung, Enthierarchisierung, Eigenverantwortung.
Diese Prinzipien werden in den Unternehmensalltag integriert, dort den Beschäftigten erst entwendet, um sie dann gegen sie zu wenden und in den Dienst der betriebswirtschaftlichen Verwertung zu stellen. Die platte Devise: Ihr könnt arbeiten, wie, wann und was ihr wollt, ihr müsst nur nachweisbar profitabel sein. Wir haben es also mit einem Prozess der Zerstörung von Begriffen der Emanzipation zu tun.
Sighard Neckel ist dennoch optimistisch: „Wenn die Unternehmen von den Menschen verlangen, ihre Energien, Kreativität und Motivation zu mobilisieren, dann hat das eine Eigendynamik. Diese Potenziale an Eigenständigkeit können die Unternehmen irgendwann einmal nicht mehr kontrollieren.“
Erschöpfte aller Länder, vereinigt euch?
Damit daraus etwas wird, werden sich die Parteien und Gewerkschaften, die die Verhältnisse verändern wollen, überlegen müssen, ob und wie sie Neckels Anliegen unterstützen. Um Burn-out glaubwürdig in den Mittelpunkt des politischen Streits rücken zu können, werden die Organisationen links des Mainstreams ihre fast absolute Konzentration auf eine Politik des rein Materiellen aufgeben müssen. Eine neue Gewichtung in ihrer Politik, die in einer Gesellschaft, in der es mehr als 60 Prozent der Bevölkerung materiell ordentlich bis gut geht, bereits seit Längerem überlegenswert ist.
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