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Debatte BrexitDer Selbstbetrug der EU

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Nicht Großbritannien, sondern die Europäische Union ist bei den Brexit-Gesprächen der Bittsteller. Aber die will nicht darüber reden.

Momentan sieht es eigentlich gar nicht so trübe aus für Großbritannien Foto: dpa

E s wird ernst mit dem Brexit. Mit einer Dreiviertelmehrheit hat das britische Unterhaus diese Woche die Einleitung der Austrittsverhandlungen gebilligt, die Regierung hat ihre Ziele in einem Weißbuch dargelegt. Höchste Zeit, mit einigen Mythen und Missverständnissen aufzuräumen, die den Konsens der Medienöffentlichkeit in Deutschland und der EU bis heute prägen und ein Verständnis der Lage behindern.

Missverständnis eins: Verlogene Populisten hätten die Briten zum Brexit verleitet, aber im Laufe der Zeit würden sich die Wähler betrogen fühlen und ihren Irrtum einsehen. So argumentieren bis heute zahlreiche europäische Politiker gerade auf der Linken. Aber es waren nicht die Populisten um Nigel Farage, sondern es war die breite Koalition der EU-Skeptiker quer durch alle politischen Lager, die im Juni 2016 den Brexit mehrheitsfähig machte.

Und alle Umfragen in Großbritannien seit der Volksabstimmung, mit einer einzigen Ausnahme, bezeugen, dass die Briten mehrheitlich hinter ihrem Brexit-Votum stehen und es wiederholen würden. Die aktuellen Ziele der Regierung May, also Austritt auch aus dem Binnenmarkt, werden in jüngsten Befragungen mit 55 zu 19 Prozent gutgeheißen.

Missverständnis zwei: Der Brexit schade der britischen Wirtschaft. Vor dem Referendum warnte das gesamte Establishment in London vor einer unverzüglich eintretenden wirtschaftlichen Katastrophe im Falle eines Brexit-Votums. In allen Nachrichten wird dies seitdem als Tatsache vorausgesetzt. Wenn es doch positive Daten gibt, heißt es, das sei so „trotz Brexit“. Seltsamerweise gibt es fast nur positive Daten. Fast alle britischen wirtschaftlichen Indikatoren sind positiv. Auch das leichte Sinken des Pfund-Wechselkurses wirkt sich keineswegs negativ aus. Mittlerweile hat die britische Zentralbank, die beim Referendum am schärfsten vor Rezession gewarnt hatte, ihre Fehleinschätzung zugegeben. Ihre Wachstumsprognose für Großbritannien 2017 liegt jetzt wieder über der für Deutschland oder die Euro­zone insgesamt.

Großbritannien geht also in die Brexit-Verhandlungen mit einer robusten Wirtschaft und mit der öffentlichen Meinung hinter sich. Das verkennt der Konsens der Meinungsmacher in Deutschland. Die Annahme ist, London käme nach Brüssel als Bittsteller angekrochen, der froh sein müsse, nicht umstandslos in die Finsternis verbannt zu werden.

Die EU will 60 Milliarden Euro

In Wahrheit ist es die EU, die als Bittsteller aufzutreten gedenkt. In Deutschland weitgehend verschwiegen, in Großbritannien aber genau registriert wurde, dass der designierte Brexit-Verhandlungsführer der EU, der Franzose Michel Barnier, von Großbritannien als Entschädigung für dessen Austritt Geld will. Und zwar bis zu 60 Milliarden Euro – Ausgleich für entgangene zukünftige EU-Haushaltsbeiträge aus London und für mutmaßliche britische Anteile an langfristigen Zahlungsverpflichtungen wie die Pensionen für EU-Beamte im Ruhestand.

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Denn durch den Brexit verliert die EU ein Viertel ihrer Wirtschaftskraft. Die EU-Finanzen geraten aus den Fugen. Da Großbritannien als eines von nur zwei EU-Ländern seit über vierzig Jahren jedes Jahr Nettobeitragszahler ist – im Jahr 2015 8,5 Milliarden Pfund (damals über 11 Milliarden Euro) –, gehen der EU durch den Brexit viel mehr Einnahmen verloren, als sie an Ausgaben einspart. Entsprechend müssen die verbleibenden Mitglieder, allen voran Deutschland, sehr viel tiefer in die Tasche greifen.

Warum sollten die Briten so viel zahlen, statt einfach aufzustehen und zu gehen? Barniers Forderung ist nur dann nachvollziehbar, wenn es stimmt, dass der Brexit die Briten schwächt und sie ihn eigentlich gar nicht wollen; dass die hohe Rechnung für den Austritt sie zur Räson, also zum Verbleib, bringt oder sie eben grollend ihre Strafe akzeptieren. Weil dafür aber nichts spricht, wäre die EU gut beraten, sich endlich eine realistische Brexit-Strategie zu geben. In Großbritannien diskutiert darüber die Öffentlichkeit. Und in Europa?

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.