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Debatte Ausgang der BundestagswahlDie Quadratur der Merkel

Lukas Wallraff
Kommentar von Lukas Wallraff

Sieben Gründe, warum die Kanzlerin wahrscheinlich wieder klar gewinnen wird – und wieso wir trotzdem wählen gehen müssen.

Je schlimmer die anderen auftreten, desto sanfter und liebenswürdiger erscheint Merkel Foto: dpa

W ir alle spüren, nein, wir wissen: So kann es nicht weitergehen. Unsere Autos verpesten die Luft, unsere Reichen werden immer reicher, viele Arme ärmer, und die meisten leben ohne große Rücksicht auf den Rest der Welt, die auch deshalb von einer Krise in die nächste taumelt. Unsere Regierung tut viel zu wenig, um diese bedrohlichen Entwicklungen zu stoppen. Warum zum Teufel gibt es trotzdem keine Wechselstimmung?

Sieben Gründe:

1. Die wirtschaftliche Lage. Uns geht es zu gut, um alles umwerfen zu wollen. Das heißt: Den meisten kommt es jedenfalls so vor. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Mehrheit bekundet laut dem ARD-Deutschlandtrend August Zufriedenheit mit ihrer Lage – und gerade einmal 9 Prozent der Deutschen nennen die soziale Ungleichheit als wichtigstes Problem. Da haben es alle schwer, die einen Regierungswechsel herbeiführen wollen.

2. Der internationale Vergleich. Selbst die Deutschen, die jeden Cent umdrehen müssen, stellen in jeder „Tagesschau“ fest: Weltweit betrachtet geht es auch ihnen gut. Sie haben zwar weniger Geld als ihre reichen Mitbürger, aber eben auch viel mehr soziale Sicherheit und Freiheit als die Menschen in den allermeisten Ländern, die von unseren Verhältnissen nur träumen können – und deshalb auch in nicht geringer Zahl versuchen, nach Deutschland zu fliehen oder einzuwandern. Auch das ist ein Ergebnis der vielen Flüchtlingsdebatten: Bei allen Kontroversen spüren doch die meisten auch, wie gut es uns hier geht. Das Glück dar­über scheint größer zu sein als das schlechte Gewissen.

3. Die Person Angela Merkel. Wir haben eine Kanzlerin, die weder dumm noch derb noch diktatorisch handelt. Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber nicht mehr, seit Gestalten wie Trump, Erdoğan, Orbán und Putin die Weltpolitik auch im Westen dominieren. Je schlimmer die anderen auftreten, desto sanfter und liebenswürdiger erscheint dagegen Merkel. Auch im Vergleich zu ihrem Amtsvorgänger von der SPD wirkt sie wertegebunden und bescheiden.

4. Die Methode Merkel. Die Kanzlerin ist eine demokratische Populistin. Solange die Veränderungswünsche diffus und widersprüchlich bleiben, hält sie sich raus. Sobald eine Forderung eindeutig Mehrheitswille wird, sorgt Merkel aber schnell dafür, dass der Wille des Volkes bald geschehe. Dabei klaut die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende hemmungslos bei anderen Parteien und ändert notfalls blitzschnell ihre Meinung. So geschehen beim Atomausstieg nach Fukushima, beim Mindestlohn und zuletzt bei der Entscheidung, die Ehe für alle zuzulassen. Das ist natürlich opportunistisch. Aber wäre uns stattdessen eine Kanzlerin lieber, die den Mehrheitswillen ignoriert und stur auf einmal getroffenen Entscheidungen beharrt?

5. Die Zickzack-Merkel. Ja, auch in der Flüchtlingspolitik folgt Merkel im Großen und Ganzen den Gefühlen der Mehrheit. Die meisten begrüßten ihre mutige Nicht-Grenzschließung im Jahr 2015, die meisten sprachen sich aber kurz danach auch wieder dafür aus, das gefühlte Chaos zu beenden und Maßnahmen zur Begrenzung einzuleiten. Tür auf, Tür zu, je nach Situation entscheiden – ein anderes praktikables Konzept haben auch Merkels Gegner bisher nicht gefunden. Und sosehr man die aktuelle Härte bedauern muss: Auch die meisten Bürger sind in dieser Frage hin- und hergerissen. Selbst den schärfsten Kritikern der Abschottung ist klar, dass Merkel europaweit lange am offensten gehandelt hat. Mit Abstand. An flüchtlingsfreundlichere Entscheidungen einer SPD-geführten Regierung glaubt kaum jemand.

Die Mehrheit der Deutschen bekundet Zufriedenheit mit ihrer Lage – da haben es alle schwer, die einen Regierungswechsel wollen

6. Die Merkel-Gegner. Womit wir bei Martin Schulz wären. Was er versucht, ist die Quadratur des Kreises. Um die Dringlichkeit einer Merkel-Abwahl zu begründen, müsste er das Land so richtig schlechtreden. Wenn er das aber täte, dann folgte sofort die logische Replik: Die SPD regiert doch mit, also ist sie doch mit schuld! Aus der Regierung heraus die Regierung stürzen, das ist ein fast unmögliches Unterfangen. Echte Chancen, einen linken Gegenentwurf durchzusetzen, gibt es frühestens dann wieder, wenn die SPD aus der Opposition angreifen kann – und eigentlich auch erst dann, wenn Merkel von rechten Ideologen in der CDU abgelöst wird und die CDU wieder genug Angriffsflächen bietet.

7. Wir selbst. Wer die ausbleibenden Maßnahmen gegen den Klimawandel und die Ungerechtigkeit in der Welt beklagt, muss sich fragen: Wozu bin ich bereit? Verzichte ich auf den nächsten Fuerteventura-Flug? Kaufe ich bei H&M, obwohl ich mir auch fairer produzierte Produkte leisten könnte? Würde ich auf Geld verzichten, damit auch andere Arbeit oder Zuflucht finden? Wer da zögert, darf sich nicht wundern, dass ein radikaler Wandel ausbleibt.

Wir haben viel zu verlieren

Ist es also sinnlos, sich noch für Politik zu interessieren, weil am Ende eh die Bequemlichkeit siegt und Merkel gewinnt? Mitnichten! Nie war es wichtiger, sich für konkrete Ziele einzusetzen. Und in kaum einem Land gibt es größere Freiheiten und Chancen, diese auch zu erreichen. Fast egal, ob eine Merkel-CDU oder eine Schulz-SPD regiert. Entscheidend ist, dass sich genug Leute engagieren und Protestaktionen unterstützen. Dann kann es klappen mit dem Druck auf Berlin. Dann kommt nach dem Atomausstieg der Kohleausstieg. Dann kommt nach der Willkommenskultur 2015 vielleicht ein neuer Versuch, ein liberaleres Einwanderungsrecht einzuführen und die Fluchtursachen endlich ernsthaft zu bekämpfen.

All das passiert jedoch gewiss nicht, wenn wir jetzt vor lauter Langeweile gar nicht wählen. Sosehr die mangelnden Unterschiede zwischen Schulz und Merkel abtörnen: Es ist eben nicht egal, ob die FDP, die Grünen oder die Linkspartei zulegen, denn es hat Einfluss auf die Politik der mutmaßlichen Wahlsiegerin.

Vor allem aber dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Wahlmüdigkeit zu einem Wahlerfolg der Rechtsradikalen führt. Dafür haben wir alle miteinander zu viel zu verlieren: die Freiheit, weiter mühsam für Fortschritte zu kämpfen.

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Lukas Wallraff
taz.eins- und Seite-1-Redakteur
seit 1999 bei der taz, zunächst im Inland und im Parlamentsbüro, jetzt in der Zentrale. Besondere Interessen: Politik, Fußball und andere tragikomische Aspekte des Weltgeschehens
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9 Kommentare

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  • Wenn Merkel gewinnt, ist das nicht gleich der Weltuntergang.

    Hauptsache ist, das ist SPD deutlich verliert und damit unter Zugzwang kommt, ihre Richtung neu zu definieren und wieder eine Opposition zu den Konservativen zu bilden.

    Das Erschreckende ist nicht der bevorstehende Wahlerfolg für Merkel, sondern die dauernde Unfähigkeit von SPD und Linken, die sozialen Probleme als Wahlkampfthemen zu instrumentalisieren.

    Nein, aktuell hätten die haben die Linksparteien einen Wahlerfolg nicht verdient.

    • @GarretJaxt:

      Seh ich genauso. Das Problem ist, dass die SPD mittlerweile ihre untere Messlatte fast völlig ausblendet. Präzedenzfall Steinmeier'09 scheint Schule gemacht zu haben - Wahlverlierer mit historisch einmalig schlechtem Ergebnis greift sich in der kurzen Konsternation das Amt (Fraktionsvorsitz) und rettet so seine Karriere und die Seeheimer-SPD.

      Der Chulz wartet nicht mal den Wahlausgang ab - er kündigt jetzt schon an, dass er bleibt.

       

      Die Frage also - wie Tief muss die SPD irgendwann mal für eine "Erneuerung" fallen? Unter 20%?

  • Die Gleichstellung der Homoehe hat nicht Frau Merkel erreicht. Sie hat den Fraktionszwang aufgehoben, sonst hätte die Union nämlich einsam dagegen gestimmt.

     

    Aber das ist der CDU eigen:

    Sie ist die vermeintliche Rückfallposition, auf die sich im "Notfall" (fast) alle einigen können. Und sogar ihre Gegner finden ggf. noch Entschuldgingen für sie.

     

    Die spontane Aufnahme der Flüchtlinge war richtig, aber auch nur die Zwangsläufigkeit, wenn keine Gewalt ausgeübt werden sollte.

    Die Regierung hatte im Vorfeld nämlich massiv gepennt.

    Als die Menschen dann 'unerwartet' an die Türen drängten, brauchte man Zeit für die typische, reaktionäre CDU-Lösung:

    Symptome bekämpfen und Probleme verschieben, anstatt sie nachhaltig oder gar präventiv zu lösen.

    "Die Balkanroute ist dicht" heißt im Klartext:

    "Die Flüchltinge kommen nicht mehr bis nach Deutschland.

    Rest egal."

     

    Ähnliches beim angeblichem Atomausstieg.

    Einerseits wurde der Ausbau der EE systematisch verschleppt, um diesen neuen Wachstumsmarkt den eher schrumpfenden Großkonzernen zuzuschachern, so daß eine zufriedenstellende Versorgung mit EE vorerst ausbleiben wird. Gleichzeitig wird Deutschlands Stromhunger immer schneller befeuert, Stichwort Elektroautos.

     

    Andererseits investiert Deutschland unter der CDU Regierung Merkel sehr kräftig in den Ausbau der Kernenergie - im Ausland.

     

    Weitere CDU-Erfolge:

    Atommüllösung, Abgasskandal, Bildunsgpolitik, Subventionsdesaster, Börsenumsatzsteuer, Steuergerechtigkeit, Bankenrettung, Eurorettung, Waffendeals, Transparenz, Abhörskandal, G20...

     

    Aber lassen wir diese Details.

    Denn CDU/Merkel ist alternativlos.

     

    Dafür haben die Medien mit ihrer Polit-DSDS-Show gesorgt.

     

    Gleichzeitig wird - nicht nur in diesem Artikel, und nicht ganz zu Unrecht - argumentiert, daß es ja eigentlich hauptsächlich darauf ankommt, daß die Regierung den Willen des Volkes umsetzt.

    Wer ist doch eher nebensächlich.

     

    Richtig.

    Nur, warum wählen wir dann überhaupt noch Parteien und ihre Programme?

  • In Deutschland zu leben heißt seit 2005 alles hinnehmen zu müssen, was die Wirtschaft und Industrie der Regierung vorbetet!

    Als Schröder die Hartz IV Gesetze durchgebracht hat, mit denen er übrigen die SPD zum Sterben verurteilt hat, tat er nichts anderes, als sich der Wirtschaftslobby zu unterwerfen.

    Die Mär mit Hartz IV den Arbeitsmarkt saniert zu haben, kann man auch nur mit der angeblich geringeren Arbeitslosenzahl heutzutage Begründen.

     

    Wer aber kann sagen, alle die, die heutzutage Arbeit haben können auch von ihrem erarbeiteten Lohn leben, welches ja eigentlich die Bedingung für eine Anstellung sind, um sie Arbeit nennen zu dürfen?

     

    Merkel hat die Hartz IV Gesetze dankend weitergeführt, weil es durch diese Gesetze einfacher war, die Wirtschaft und Industrie auf Linie zu halten. Leider sind bei all dieser Rhetorik um die Arbeitslosenzahlen diejenigen untergegangen, die weiterhin keine 2 - 3 Minijobs ausführen können oder besser dürfen und ausschließlich von Hartz IV leben müssen, wenn man das denn so nennen will!

     

    Die einzige Sache die Merkel sich sicher auf ihre Fahnen schreiben kann in puncto Gerechtigkeit, ist ihre Liebe zum Kapital der Superreichen, die während ihrer Amtszeit auch ständig immer mehr wurden und auch immer reicher, während der Arbeiter auf dem Lohnniveau der 1990iger stehen geblieben ist.

     

    Durch diese Lohnmisswirtschaft ist es nun immer schwieriger Lohnerhöhungen zu erreichen, die auf eine angemessen Erhöhung zielen, denn es müsste eine hohe zweistellige Prozentzahl vereinbart werden um einen Ausgleich zu erreichen, wer aber kann das rechtfertigen?

     

    Auch hat Merkel ihren Ausführungen zu Folge nicht vor etwas gegen die Menschenverachtenden Hartz IV Gesetze zu unternehmen.

    Da Schulz aber eben genauso zaghaft an dieses Desaster heran geht, wird sich Merkel wohl eher durchsetzen und die Wahl gewinnen, denn keiner der Beiden ist wirklich gewillt Reformen gegen die Ungerechtigkeiten der Reichtumsverteilung anzugehen!!!

  • Was findet ihr eigentlich an Gewinnern? Nur nach Erfolg schielen, ist ganz schön doof, siehe Trump, dem jetzt das Monsterbaby mit dem Topfhaarschnitt die Show stiehlt. Übrigens: Die amerikanische Autoindustrie jubelt schon: Eine halbe Mio. Autos sollen ertrunken sein. Katastrophen fördern den Absatz. Da kommen Auto-Abfackler in Berlin einfach nicht mit. Wie schon Samuel Beckett sagte:

    "Räsonnieren wir ohne Furcht, der Nebel wird sich schon halten."

     

    Und ich mach drei Kreuze, dass sowohl Martin wie Angela relativ besonnen sind, während das Beben der Erde selbst hier gemessen werden konnte. Das last-chance-café ist eröffnet. Was wir hier im Überfluss haben - Schlaftabletten - wären jetzt genau das Richtige für Donald.

  • Das mit dem "uns geht es gut" oder sogar, wie der Autor schreibt "zu gut" beruht auf durchschnittsbasierten Statistiken und einer medialen Verbreitung des Bildes eines selbstzufriedenen, anspruchsbescheidenen (weil eben gesättigten) an Wettbewerbsfähigkeit des Landes orientierten Deutschen.

     

    Wer tiefer bohrt, auch entsprechende Statistiken, der muss ja nicht mal einen auf Ulrich Schneider machen, um festzustellen, dass zumindest 40% von jeglichem Wohlstandswachstum abgekoppelt sind. Da allerdings sie wohl zur Hälfte nicht wählen gehen, ist es eigentlich egal. Weil es für diese Menschen egal ist "ob eine Merkel-CDU oder eine Schulz-SPD regiert", wie der Autor zutreffend schreibt.

     

    Jenseits von diesem Wohlstandsarmutsgejammere auf hohem Niveau stellt sich allerdings die Frage - hat Angela Merkel keine groben Fehler gemacht in den letzten 4, 8 oder 12 Jahren? Ich glaube schon. Auftrumpfen in der europäischen Politik, auch wenn es durch Schäuble oder Juncker ist; Ausverkauf der deutschen Technologie an China; Autoindustrie - auch wenn sie's jetzt beklagt, es geht eindeutig auf ihre Kappe; Flüchtlingspolitik - weil es auf Dauer zu billig und zu egoistisch daherkommt; Abhöraffäre - kann man sich so blöd (an)stellen?; Exportüberschüsse/Binnenkonsum/öff.Investitionen - das fällt uns mal gewaltig auf die Füsse; Ukraine - gut vielleicht waren es die Amis, aber sie war dabei; Von der Leyen.

    Nur so das Grobste...

  • 3G
    39167 (Profil gelöscht)

    Ich bin weder gelangweilt, noch politisch desinteressiert.

    Trotzdem werde ich zum ersten Mal nicht zur Wahl gehen, da keine der genannten Parteien eine echte Alternative bilden, für mich jedenfalls.

     

    Und den Schuh, dass dann die Rechten erstarken, ziehe ich mir nicht an.

    Das ist ein Todschlagargument, das jegliche Veränderung im Keim erstickt und jedem nur ein schlechtes Gewissen machen soll.

     

    Ich möchte nicht in einer Lobbykratie leben sonder in einer Demokratie mit. e c h t e n

    Demokraten.

    Deshalb kann ich dieses System nicht unterstützen. War fast immer rot oder grüne Wählerin, habe dann kleinere Parteien gewählt. Das aber macht nicht wirklich Sinn.

    Und ja, ich habe mich dazu entschlossen und nein, ein schlechtes Gewissen deshalb lehne ich dankend ab.

    • @39167 (Profil gelöscht):

      Wer nicht wählt hat schon gewählt, nämlich die Regierung die wir die nächsten 5 Jahre haben werden, denn auch nicht zu wählen ist eine Wahl und die ist moralisch genauso gut oder schlecht wie die Wahl einer Partei.

       

      Da kann man noch so verkwast sich rausreden wollen, nach dem Motto ich will das System nicht unterstützen. Doch, Sie machen genau das, wenn Sie nicht wählen: Sie unterstützen das System! genauer gesagt: das Lobbyistensystem!

      • 3G
        39167 (Profil gelöscht)
        @Grisch:

        Das denken Sie, ich denke das nicht.

        Und nein, ich unterstütze dieses System nicht. Ich arbeite an Veränderungen, gemeinsam mit vielen anderen, außerparlamentarisch.