Was wählen bei der Bundestagswahl?: Vielleicht hilft Tarot
Unsere Autorin wurde kürzlich eingebürgert. Dieses Jahr darf sie zum ersten Mal wählen. Nur: Wohin mit dem Kreuz?
Sie zieht die rechte Braue hoch und nimmt einen Zug von ihrer E-Zigarette. „Okay, lass uns die Zwiebel etwas entblättern. Worum geht es dir eigentlich?“ Meine Spülmaschine beginnt zu blubbern. Die Abendsonne fällt durchs Fenster.
Ich starre zum Kartenstapel auf meinem Küchentisch, den ich gleich mischen und in drei teilen werde. Sie ist die Freundin einer Freundin und Tarotkartenlegerin. „Keine professionelle“, sagt sie, aber seit sie zwölf ist, beschäftigt sie sich damit.
Ich bin 30 Jahre alt. Und Erstwählerin. Und ich habe keine Ahnung, was ich mit meiner Stimme anfangen soll. „Es geht um Verantwortung, oder?“, fragt sie geduldig. Ich glaube, sie hat recht. Es geht darum, dass ich zum ersten Mal in diesem Land etwas mitentscheiden darf. Aber nicht weiß, wie man so eine Entscheidung überhaupt trifft.
Wie denn auch? Es gibt Tausende Anlaufstellen im Netz, die einem erklären, warum wählen wichtig ist. Wie Wahlen funktionieren und was die Parteien uns versprechen. Aber niemand kann mir sagen, wie ich herausfinde, was das Richtige für mich ist. Für uns ist. Tarot hat viel mit Intuition zu tun, habe ich gehört. Das klang gut. Denn wählen, das merke ich jetzt, ist keine reine Kopfsache. Es ist auch eine emotionale Entscheidung: In was für einer Welt will ich leben?
Austauschbare Themen
Obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin, habe ich erst vor zwei Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Wenn sich Alice Weidel auf AfD-Veranstaltungen über Deutschlands angeblich laxes Einbürgerungsrecht empört, kann ich nur müde die Augen verdrehen. Denn wie so oft spült Weidel die Realität nur weich, um die Existenz ihrer Partei zu legitimieren. Dabei ist das Gesetz grausam genug: Ohne unbefristeten Arbeitsvertrag stehen die Chancen auf einen deutschen Pass sehr schlecht. Wer Sozialleistungen in Anspruch nimmt, kann es gleich vergessen.
Die Einbürgerung war ein nervenaufreibender Prozess, noch am Tag der offiziellen Bewilligung sollte ich einen aktuellen Kontoauszug vorzeigen. Glücklicherweise konnte ich alle Anforderungen erfüllen – und wurde dafür mit zahlreichen Privilegien belohnt. Neben Reisefreiheit ist für mich die grundlegendste Veränderung, dass ich nun endlich wählen darf.
Denn schon als türkische Staatsbürgerin konnte ich von meinem Wahlrecht keinen Gebrauch machen. Wahlurnen in den Auslandsvertretungen der Türkei wurden erstmals bei den Präsidentschaftswahlen im Sommer 2014 aufgestellt – also genau zu der Zeit, als ich mich im Konsulat gerade ausbürgern ließ. Gestört hat mich das nie besonders, da ich es ohnehin seltsam finde, mich an den Wahlen eines Landes zu beteiligen, in dem ich höchstens Urlaub mache. Doch es wäre mir deutlich leichter gefallen, mich in der Türkei zu entscheiden, wen ich wähle. Wenigstens unterscheiden sich dort die vier großen Parteien so grundsätzlich voneinander, dass es unmöglich ist, mehreren Parteien gleich nah oder fern zu sein.
In Deutschland scheint das Gegenteil der Fall. Die Grenzen zwischen den Parteien und ihren Inhalten zerfließen wie verdünnte Wasserfarben. Schwer zu sagen, ob das eine neue Entwicklung ist oder ob es schon immer so war. Vielleicht fiel es mir bloß nie auf, weil ich sowieso nicht wählen ging. Nun aber zappe ich erstmals als potenzielle Wählerin in die Talkshows, klicke mich durch die Wahlprogramme und stelle fest: Alle Spitzenkandidat*innen sind mir ähnlich unsympathisch, alle Themen austauschbar und alle Wahlversprechen unüberzeugend schwammig.
Gelangweilt von allen
Als wäre das nicht genug, will sich unverschämterweise auch noch keine Partei eindeutig zu dem großen Thema positionieren, das mich und den Rest des Landes in den vergangenen zwei Jahren am meisten beschäftigt hat – wohl aus Angst, dass man sich mit dem Flüchtlingsthema nur unbeliebt machen kann. Die einzige Ausnahme bildet da dankenswerterweise die AfD. Sie stellt sich wenigstens klar gegen alles, was ich bin und vertrete, und ist somit auch die einzige Partei, die ich ohne Bedenken von vornherein ausschließen kann.
Übrig bleiben: Linkegrünespdcdufdp. Danke, Deutschland. Jetzt bekomme ich endlich eine Stimme, aber keine Option, die sie verdient hätte. Ich bin so gelangweilt von allen Parteien, dass ich ernsthaft mit dem Gedanken spiele, am 24. September einfach zu Hause zu bleiben und Netflix zu schauen. „Ist doch auch keine Lösung“, hätte sicher eine naive 20-jährige Version von mir gesagt.
Aber nun frage ich mich, was genau es demokratietechnisch bringen soll, einfach nur zu wählen, um gewählt zu haben. Demografisch haben sowieso die Ü50-Wähler*innen das Sagen. Kolleg*innen sprechen mir Mut zu und empfehlen mir das „kleinste Übel“. Aber kann das kleinste Übel nicht einfach sein, überhaupt nicht zu wählen? Oder vielleicht doch eine der Kleinen? Martin Sonneborns satirische Die PARTEI? Oder die HipHop-Partei, die Urbane?
Schwieriges Privileg
Die Spülmaschine summt sich trocken. Die ersten Karten, die ich umdrehe, heißen „Macht“, „Königin der Scheiben“ und „Prinzessin der Scheiben“. Sie stehen für das Erreichen von Zielen, das Streben nach Sicherheit und für eine Aufforderung zum Handeln. Klingt das nach FDP? Meine Kartenlegerin lächelt sanft. Sie sagt, die Karten passen sehr gut zu meiner Frage, da ich mich durch das Stimmrecht bereichert fühle und nun den besten Nutzen aus dieser Situation ziehen will. Die nächste Karte heißt „Reichtum“. „Das ist die höchste Karte,“ erklärt sie aufgeregt. „Du besitzt von allem mehr als genug und kannst den Reichtum sinnvoll für deine Umwelt einsetzen.“
Okay. „Reichtum“ bestätigt meinen Zweifel. Den Zweifel daran, dass Nichtwählen oder das Wählen einer Kleinpartei sinnvoll für irgendwen ist. Denn Wahlrecht ist ein absolutes Privileg. Das sehe ich am deutlichsten in meinem eigenen Umfeld. Ich bin nicht nur die einzige Wahlberechtigte in meiner Familie, sondern auch in meinem engeren Freundeskreis. Wenn von den fünfzehn Personen, die mir nahestehen, außer mir niemand einen Wahlzettel ankreuzen darf, ist es dann nicht vermessen, diese Stimme einfach so aus dem Fenster zu schmeißen? Haben wir diesen Luxus, gerade jetzt, wo die AfD alle paar Wochen bei Umfragen auf Platz drei landet? Ich fühle mich tatsächlich verantwortlich. Leichter fällt mir die Wahl dadurch aber nicht unbedingt.
Die Sache mit dem Gastrecht
Mein großes Problem ist: Ich sehe mich als Linke. Und die Linke setzt auf ein Thema, das mir wirklich am Herzen liegt (soziale Gerechtigkeit). Selbst der alternative Wahl-O-Mat, deinWal.de, der statt Wahlversprechungen tatsächliche Abstimmungsergebnisse mit meiner Meinung abgleicht, sagt, ich stimme in den meisten Punkten mit der Linken überein. Aber der Punkt ist: Die Partei hat eine Spitzenkandidatin, die ich für unwählbar halte. Es ist nicht nur Sahra Wagenknechts antieuropäische Haltung. Ich finde es grundsätzlich richtig, die gegenwärtige Machtkonstellation innerhalb der EU infrage zu stellen. Aber muss man Europa dafür direkt zerschlagen? Das leuchtet mir nicht ein.
Richtig schlecht wird mir allerdings bei Wagenknechts Äußerungen nach der Kölner Silvesternacht, als es plötzlich en vogue war, Geflüchtete per se zu Kriminellen und Sexualstraftätern zu erklären. Um Merkel eins reinzuwürgen. Um keine Wähler*innen an die AfD zu verlieren. „Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt.“ Was soll das? Es gibt kein Gast-, sondern ein Asylrecht, und das wurde unter Merkel massiv verschärft. Wohl nicht scharf genug für Wagenknecht. Sorry, aber ich brauche möglichst großen Sicherheitsabstand nach rechts, um atmen zu können. Und der scheint hier eindeutig nicht mehr gegeben.
Bei den Grünen sieht die Sache nicht viel besser aus. Dieser Mythos der coolen Alternativen, Joschka Fischers Nike-Sneakers – das hat alles nichts mit der Besserverdienerpartei zu tun, die ich heute kenne. Zwar finde ich mit Cem Özdemir wenigstens jemanden an der Spitze, mit dem ich mich rein biografisch halbwegs identifizieren kann. Aber die Vorstellung einer schwarz-grünen Koalition ist schon ein bisschen Horror. Vor allem, wenn ich nach Baden-Württemberg schaue, wo ich regelmäßig meine Eltern besuche. Ich sehe da keine progressive, weltoffene Landesregierung. Sondern einen Kretschmann, der Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsstaaten erklären will (aufgrund der „kriminellen Energie“, die von diesen „jungen Männergruppen“ ausgeht). Und einen Boris Palmer, der eifrig Beatrix von Storch nachplappert.
Es piepst. Die Spülmaschine ist fertig. „Der Gehängte“ heißt die Karte, die mein Unbewusstes widerspiegeln soll. Er hängt kopfüber, ganz schön gruselig. Er deutet darauf hin, dass es notwendig ist, neue Perspektiven einzunehmen. Auch meine nächste Karte, „Kummer“, klingt nicht sehr hoffnungsvoll. „Es steht eine Ernüchterung an“, sagt die Kartenlegerin. „Dich wird eine kluge, wenn auch schmerzvolle Erkenntnis ereilen.“
Eine neue Perspektive
Muss ich vielleicht über meinen Tellerrand schauen? Parteien in Erwägung ziehen, die mir nie in den Sinn kämen? Ich muss sagen, das einzig Visionäre an diesem Wahlkampf sind für mich bisher die hippen Comeback-Plakate der FDP. Allein die unterhaltsamen Christian-Lindner-Memes, die durch die sozialen Netzwerke geistern, werden den Freien Liberalen sicher ein paar ironische Proteststimmen einbringen („Geld ist schon Mitte des Monats alle? Man kann doch einfach zum Geldautomaten gehen“).
Mit dem digitalen Datenschutz setzt die Partei immerhin ein zeitgemäßes Thema, und mit der Forderung nach Bafög für alle zeigt sie, dass ihr die jungen Wähler*innen nicht so egal sind wie den übrigen Parteien. Letztlich aber ist das Beste an der FDP wahrscheinlich, dass sie nicht die AfD ist. Und so setzt sich Lindner auch nur in Talkshows, um nichts anderes zu tun, als die Kollegen zu seiner Rechten zu diskreditieren. Well. Es gibt dümmere Strategien.
Zum Beispiel auf eine einzige Person zu setzen, ohne das Parteiprofil zu schärfen. Das Einzige, womit Martin Schulz bisher beworben wurde, war sein Ehrgeiz. Als ob sich Merkel von einer Charaktereigenschaft umstürzen ließe. Ich würde die SPD eigentlich gerne gut finden. Aber ich weiß ehrlich nicht, wofür die Partei heute steht. Für Hartz IV? Für gute Beziehungen zu russischen Ölunternehmen? Der einzige Grund, der mir einfällt, warum ich die SPD wählen sollte, ist, dass meine Eltern Türken sind. Türken wählen SPD, Russen die Union. So sagte man zumindest noch vor ein paar Jahren. Ob das noch stimmt?
Ein zynisches „Wir“
Ich rufe meine Mutter an. Andere Wähler*innen machen das doch auch so. Sagen, sie wählen XY, weil sie aus einer XY-Familie kommen. Ich frage meine Mutter, wen sie wählen würde, wenn sie denn dürfte. „Hm.“ Sie ist nie unentschieden, deshalb weiß ich, sie sucht nur die passenden Worte für eine glasklare Antwort. „Früher hätte ich Linke oder SPD gesagt. Aber heute würde ich Merkel wählen.“ Ich muss schlucken. War es nicht meine Mutter, die mir damals, 1998, erklärte, dass die CDU die Bösen sind und uns nichts Besseres passieren konnte, als dass sie endlich abgewählt wurden? „Das waren andere Zeiten. Das war Kohl“, sagt sie heute. „Merkel hat das Sagen in der Welt, der Wirtschaft geht es anscheinend gut. Außerdem hat sie eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Wer sonst hätte schon den Mut dazu gehabt?“
Reflexhaft entferne ich das Handy von meinem Ohr und halte es in die Luft. Denn ich höre nicht zum ersten Mal von linken Merkel-Wähler*innen. Und ich weiß selbst, es gibt gute Gründe, Merkel zu wählen. Aber es gibt eben auch tonnenweise Gründe, es nicht zu tun. Ihr Wahlspruch etwa bringt es wunderbar auf den Punkt: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“.
Dieses „Wir“, es ist so unfassbar zynisch. „Wir“, die mehr arbeiten und trotzdem mit weniger Geld auskommen müssen als vor zehn Jahren? Oder „wir“, die Rüstungsexporte blockieren, um unsere Panzer direkt in der Türkei herzustellen und gleichzeitig „Free Deniz“ zu rufen? Und da wären noch „wir“, die mitten im NSU-Prozess mit ansehen durften, wie Akten über das Helfernetzwerk geschreddert wurden.
Was hat die Kanzlerin noch mal dazu gesagt? Ach so, ja: nichts. Übrigens heißt das CDU-Wahlprogramm nicht Wahlprogramm, sondern Regierungsprogramm. Weil der Sieg in der Tasche ist. Das heißt, Merkel-Wählen ist wie Nichtwählen, nur anstrengender.
Ich darf meine letzte Karte umdrehen. Sie ist rot und heißt „Herrschaft“. „Das ist ein impulsives und kreatives Zeichen. Du wirst Leidenschaft für eine Entscheidung entwickeln, die dir ganz plötzlich in den Sinn kommt.“ Meine Kartenlegerin packt ihren Rucksack und umarmt mich zum Abschied. Ich leere die Spülmaschine, lasse das Gespräch sacken. Ich schlafe gut.
Am nächsten Morgen wache ich auf und schreibe meinen nicht-wahlberechtigten Freund*innen über WhatsApp. Sie sollen mir bis zum 23. September ihre Stimmen schicken. Die Partei, die die meisten Stimmen erhält, bekommt mein Kreuz. Und ich bin der Welt, in der ich leben will, wenigstens einen Schritt näher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“