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Debatte Algeriens Präsident BouteflikaKranker Mann Nordafrikas

Reiner Wandler
Kommentar von Reiner Wandler

Präsident Bouteflika hat den richtigen Zeitpunkt verpasst, um in Würde abzutreten. Die Proteste gegen seine Kandidatur sind nicht mehr aufzuhalten.

Wirklich gar kein Vertrauen mehr haben die Algerier in ihren kranken Präsidenten Foto: ap

D as sture Festhalten an einer fünften Kandidatur des schwerkranken Präsidenten Abdelaziz Bouteflika für das Amt an der Staatsspitze Algeriens verwundert. Denn das Regime hatte es bisher immer verstanden, sich den Gegebenheiten anzupassen. Ob per Staatsstreich von Houari Boumedienne gegen den ersten Präsidenten der Unabhängigkeit, Ahmed Ben Bella 1965, dem Militärputsch nach dem Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) 1992 oder dem Bürgerkrieg gegen islamistische Untergrundgruppen – „die Macht“, wie die Algerier das Konglomerat aus Interessen und Clans nennt, das im Hintergrund die Fäden in der Hand hält, hat es bisher selbst in schwierigsten Situationen immer verstanden, für Kontinuität zu sorgen.

Doch jetzt haben die Mächtigen im Lande ganz offensichtlich den Zeitpunkt verpasst, die Nach-Bouteflika-Ära und damit das eigene Überleben vorzubereiten. Deshalb schieben sie den alten Mann im Rollstuhl erneut zur Kandidatur für eine weitere Amtszeit. Womit sie nicht gerechnet hatten: Dieses Mal ist es das entscheidende Mal zu viel. Das Bild des schwerkranken Bouteflikas ist für die Algerier ein unerträgliches Symbol geworden. Es steht für die Schwäche des überholten, aus der Unabhängigkeitsbewegung geerbten Regimes, das sie als korrupt empfinden. Sie wollen es endlich loswerden. Seit Wochen reißen die Proteste gegen eine mögliche fünfte Amtszeit nicht ab.

Dabei hätte Bouteflika als wichtiger Staatsmann in die Geschichte Algeriens eingehen können. Er hätte sich nur beizeiten zurückziehen müssen, beispielsweise kurz nach seinem Schlaganfall 2013, von dem er sich nie erholt hat. Der einstige Außenminister unter Präsident Houari Boume­dienne, der Algerien in die Unabhängigkeit führte, wurde 1999 erstmals an die Staatsspitze gewählt.

Er versprach nach dem „dunklen Jahrzehnt“ des Bürgerkriegs zwischen der Armee und islamistischen Untergrundgruppen, der bis zu 200.000 Menschen das Leben kostete, das Land zu befrieden. Dies gelang ihm weitgehend mit einer Amnestie und einem Gesetz zur nationalen Aussöhnung, die beide per Volksabstimmung bestätigt wurden. Bouteflika gliederte einen Großteil der Untergrundkämpfer wieder in die Gesellschaft ein. Und er integrierte einen Teil des politischen Islamismus in seine Regierungen.

Regieren vom Krankenzimmer aus

Doch dann begann die Zeit, die Bouteflika zum Symbol des verknöcherten Regimes machte. Er ließ die Verfassung ändern, um nach zwei Amtszeiten erneut kandidieren zu können. Selbst nach dem Schlaganfall trat er 2014 ein weiteres Mal an. Er wurde gewählt, trotz seiner Abwesenheit im Wahlkampf. Fortan verbrachte Bouteflika mehr Zeit im Krankenzimmer seiner Sommerresidenz an der Küste als im Präsidentenpalast in Algiers. Staatsbesuche empfängt er nur noch selten. Und wenn er reist, dann zu medizinischer Behandlung nach Frankreich oder in die Schweiz. Bei den seltenen Auftritten im staatlichen TV bekommt das Volk einen regungslosen Mann im Rollstuhl zu sehen, der nicht mehr richtig sprechen kann.

Wer wirklich regiert? Das ist Stoff für ausführliche Spekulationen. Die Presse schreibt diese Rolle dem jüngeren Bruder Said Bouteflika zu. Er ist Präsidentenberater und damit einer der wenigen, der persönlichen Kontakt mit dem schwerkranken Staatschef hat. In Bouteflikas bisher letzter Amtszeit begann sein Umfeld mit Umstrukturierungen im Machtgefüge. Generäle wurden in den Ruhestand geschickt, der übermächtige militärische Geheimdienst durch einen zivilen ersetzt. All das diente der Stabilisierung der Machtstrukturen, die den Präsidenten und dessen Bruder umgeben. Eine Demokratisierung, wie sie Bouteflika 2011 angesichts des Arabischen Frühlings versprach, blieb aus.

Bouteflika ist ein regungsloser Mann im Rollstuhl, der nicht mehr richtig sprechen kann. Wer regiert Algerien wirklich?

Anders als in den Nachbarländern Tunesien oder Marokko war es in Algerien in jenen Monaten zu keinen Großdemonstrationen gekommen. „Revolution? Nein Danke!“ bekam man von jungen Algeriern oft zu hören. Nur zu gut war ihnen in Erinnerung, was passierte, als Ende der 1980er Jahre das Einparteiensystem stürzte. Der Sieg der Islamisten bei den Wahlen 1991/92, der darauf folgende Staatsstreich der Armee und „das dunkle Jahrzehnt“ haben Algerien geprägt. Die Angst vor einem neuen Konflikt war deshalb trotz demokratischem Aufbruch beim kleinen Nachbarn Tunesien größer als der Wunsch nach Veränderung.

Bis jetzt eine erneute Kandidatur „der Mumie“, wie viele Bouteflika nennen, das Fass zum überlaufen brachte. Noch nie seit der Unabhängigkeitsfeier 1962 – nach acht Jahren Krieg gegen Frankreich – waren so viele Menschen auf der Straße, wie in den vergangenen Wochenenden gegen eine fünfte Amtszeit Bouteflikas. Ob alt, ob jung, ob aus den tristen Vorstädten, oder den kolonialen Innenstädten, es ist eine breite Bewegung, die endlich eine Veränderung will in einem Land, in dem trotz Öl- und Gasreichtum viele keine Zukunft sehen.

Das Volk will keine Zeit mehr gewähren

Trotz der Androhung von Gewalt seitens der Regierung und Armee wächst die Bewegung unaufhörlich. Teile der einstigen Einheitspartei FLN befinden sich seit längerer Zeit in der Opposition zu Bouteflika und dessen Umfeld. Aus dem Unternehmerverband und der Gewerkschaft schließen sich einflussreiche Mitglieder den Protesten an. Und auch der mächtige Verband der Veteranen des Unabhängigkeitskrieges begrüßt das „zivilisierte Verhalten“ der weitgehend gewaltfreien Demonstranten und wirft der Regierung gar vor, „nicht auf der Höhe der legitimen Bestrebungen unseres Volkes“ zu sein.

In einem Brief, den Bouteflika angeblich nach den ersten Protesten im Hospital in Genf verfasst hat, bietet er einen geordneten Übergang an. Er werde in seiner fünften Amtszeit eine neue Verfassung ausarbeiten lassen und dann vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausrufen.

„Die Macht“ bittet um Zeit, doch das Volk ist nicht gewillt, ihr diese zu gewähren.

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Reiner Wandler
Auslandskorrespondent Spanien
Reiner Wandler wurde 1963 in Haueneberstein, einem Dorf, das heute zum heilen Weltstädtchen Baden-Baden gehört, geboren. Dort machte er während der Gymnasialzeit seine ersten Gehversuche im Journalismus als Redakteur einer alternativen Stadtzeitung, sowie als freier Autor verschiedener alternativen Publikationen. Nach dem Abitur zog es ihn in eine rauere aber auch ehrlichere Stadt, nach Mannheim. Hier machte er eine Lehre als Maschinenschlosser, bevor er ein Studium in Spanisch und Politikwissenschaften aufnahm. 1992 kam er mit einem Stipendium nach Madrid. Ein halbes Jahr später schickte er seinen ersten Korrespondentenbericht nach Berlin. 1996 weitete sich das Berichtsgebiet auf die Länder Nordafrikas sowie Richtung Portugal aus.
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