David Ricardo und seine Wirkung: Spekulant und Ökonom
David Ricardo war einer der reichsten Männer Großbritanniens. Er hat Marx beeinflusst – und zugleich die Liberalen. Vor 200 Jahren ist er gestorben.
D avid Ricardo ist in der Theoriegeschichte einzigartig, denn der britische Ökonom hat gleich zwei konträre Strömungen geprägt: Der eine Ricardo führte direkt zu Marx – und der andere Ricardo inspirierte die Neoliberalen. Vor 200 Jahren ist Ricardo gestorben, und bis heute fasziniert sein Werk.
Es war Zufall, dass Ricardo zum Ökonomen wurde. 1799 verbrachte er seine Ferien im englischen Kurort Bath, wo ihm in der Leihbücherei ein Exemplar von „Wohlstand der Nationen“ in die Hände fiel. Adam Smiths Werk ließ ihn nicht mehr los; er las es immer wieder, bis er genau wusste, was ihn überzeugte – und was nicht.
Ricardo wurde 1772 in der City of London geboren, als drittes von siebzehn Kindern. Sein Vater Abraham entstammte einer jüdisch-portugiesischen Familie, die über Livorno nach Amsterdam eingewandert war und vom Aktienhandel lebte. 1760 wurde Abraham nach London geschickt, um dort die Geschäftsinteressen der Familie wahrzunehmen, und Sohn David wurde bereits mit 14 Jahren in die Börsenwelt eingeführt.
Doch schon bald musste sich Ricardo selbstständig machen. Seine Eltern goutierten es nicht, dass er mit 21 Jahren eine Quäkerin geheiratet hatte. Also lieh sich Ricardo Geld von Freunden und war als Börsenspekulant so erfolgreich, dass er seinen Vater schon bald finanziell überholte. Als Ricardo im September 1823 an einer Mittelohrentzündung starb, gehörte er zu den 500 reichsten Männern Großbritanniens.
Vor allem der Krieg gegen Napoleon hatte Ricardo reich gemacht: Er vermittelte und garantierte die Militärdarlehen der britischen Regierung – und spekulierte 1815 auf einen Sieg in der Schlacht von Waterloo. Nachdem diese größte Wette seines Lebens aufgegangen war, setzte er sich mit 43 Jahren zur Ruhe. Er zog sich auf das prächtige Gut Gatcombe Park zurück, das heute Prinzessin Anne, der Tochter von Königin Elisabeth II., gehört – und widmete sich der ökonomischen Theorie.
Ricardo kämpfte mit einem Problem, das Smith weitgehend ignoriert hatte: Warum sind Unternehmer reich und Arbeiter arm? Ricardos Ausgangspunkt war der Tauschwert einer Ware, also der Preis. Bei ihm war dieser Tauschwert allein durch die Menge der Arbeit bestimmt, die nötig war, um ein Gut zu produzieren. Von diesem Gesamtwert wurde dann der Profit des Unternehmers abgezogen. Der Arbeiter erhielt nur den Rest, der groß genug sein musste, damit er sich und seine Familie ernähren konnte.
Ricardo übersah, wie brisant diese Aussage war: Wenn nur die Arbeiter den gesellschaftlichen Reichtum schufen – wo kamen dann die Gewinne her? Die Unternehmer schienen überflüssig zu sein und nur Profite zu machen, weil sie ihre Arbeiter ausbeuteten.
Im Rückblick scheint es erstaunlich, dass der reiche Spekulant Ricardo seine eigene Klasse implizit für obsolet erklärte. Die Erklärung ist nicht so banal, wie sie klingen mag: Ricardo hatte keine bessere Theorie. Damit war und ist er nicht allein. Bis heute können die Ökonomen nicht schlüssig herleiten, wie es zur Ungleichheit kommt. So schrieb der Nobelpreisträger Paul Krugman 2016 in seinem Blog: „Wir wissen nicht wirklich, wie man die persönliche Einkommensverteilung modellieren könnte – im besten Fall haben wir einige halbwegs plausible Ad-hoc-Ansätze.“
Klassen und Kapitalisten
Doch zurück zu Ricardo: Bei ihm tauchte erstmals jenes Vokabular auf, das später auch Marx benutzen würde. Ricardo sprach von „Klassen“ und von „Kapitalisten“. Eine neue Unversöhnlichkeit durchzog sein Buch.
Marx hat Ricardo konsequent zu Ende gedacht. Aus den Gedanken eines Millionärs hat er die Theorie des unausweichlichen Klassenkampfs gemacht. Von Ricardo übernahm er die zentralen Thesen, dass nur Arbeit Werte schafft, dass die Gesellschaft aus antagonistischen Klassen besteht, dass die Arbeiter zwangsläufig verelenden müssen – dass sich die Kapitalisten Werte aneignen, die sie nicht produziert haben.
Ricardo ist jedoch auch Ahnherr der Liberalen. Sie begeisterten sich vor allem für seine Theorie der „komparativen Kostenvorteile“, die bis heute in keinem Wirtschaftslehrbuch fehlt, um die Segnungen des Freihandels zu erläutern. Diese enorme Wirkungsgeschichte ist umso bemerkenswerter, als der Freihandel für Ricardo selbst kaum eine Rolle spielte. Er machte ganze zwei Prozent seines Buches aus.
Lieber Textilien als Portwein
Ricardo erläuterte seine Freihandelstheorie mit einem Beispiel, das weltberühmt geworden ist. Es sei einmal angenommen, dass Portugal und England beide sowohl Portwein als auch Textilien herstellen können. Außerdem kann England Portwein und Textilien billiger produzieren als Portugal. Aber: Die englische Produktivität bei der Tuchherstellung ist höher als beim Weinanbau. Dann wäre es für England vorteilhaft, nur Textilien herzustellen und den Portugiesen die Portweinproduktion zu überlassen.
Ricardos Theorie der komparativen Kostenvorteile ist charmant, weil sie mathematisch absolut sauber ist. Es galt also als bewiesen, dass der Freihandel eine Win-Win-Situation für alle Länder darstellt. Dennoch schien die Theorie nicht zu stimmen: England wurde immer reicher – das ärmere Portugal aber stagnierte.
Mathematik und Empirie fielen also auseinander, was in der Ökonomie noch häufig auftreten sollte. Aber wieso konnte Freihandel schädlich sein, wenn er sich formal so gut begründen ließ? Ein Grund ist, dass Ricardo sich noch nicht vorstellen konnte, welche Rolle die Technik künftig spielen würde. Er lebte in einer vorindustriellen Welt, die von Winzern und Tuchmachern bevölkert wurde. Ricardo schrieb zwar über das Kapital, kannte den modernen Kapitalismus aber nicht. Trotzdem lohnt sich die Lektüre bis heute: Ohne Ricardo ist nicht zu verstehen, wie sich die ökonomische Theorie entwickelt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien