Das Verbrechen vergessen: Demenzkranker bleibt eingesperrt
Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass ein Demenzkranker gesichert untergebracht bleiben muss. Die Revision seines Anwalts ist damit gescheitert.
Vor einem Jahr betrat der damals 83-jährige Ernst Niemann (Name geändert) einen Verhandlungsaal des Kieler Landgerichts. Der ehemalige Polizist hatte eine ebenfalls betagte und geistig behinderte Frau geschlagen, ihr seine Hosenträger um den Hals geschlungen und sie über den Boden gezerrt. Das Opfer wurde schwer verletzt, es hätte sterben können. Die Frau lebte mit Niemann im selben Flur eines Pflegeheims in der Gemeinde Osdorf in Schleswig-Holstein.
Niemann leidet unter Demenz. Mutmaßlich glaubte er, die Frau sei eine Kriminelle, die er dingfest machen müsste. Dass der Rentner sich weder an die Tat erinnerte noch begriff, dass er als Angeklagter vor Gericht stand, war ihm bei der Verhandlung deutlich anzumerken. Auf Fragen des Richters antwortete er unzusammenhängend.
Doch ein Angeklagter muss grundsätzlich anwesend und in der Lage sein, dem Geschehen zu folgen – so sagt es die Strafprozessordnung, und so argumentiert auch der Kieler Anwalt und Medizinrechtler Axel Höper, der Niemann vertrat: „Wenn der Angeklagte nicht versteht, worum es geht, muss das Verfahren eingestellt werden, sonst wird er zum Objekt staatlichen Handelns“, sagte Höper der taz. Er ließ daher das Urteil des Kieler Landgerichts vom BGH prüfen.
Niemann war bereits öfter handgreiflich geworden
Das Landgericht schickte Niemann für eine unbegrenzte Sicherungsverwahrung in die forensische Klinik in Schleswig, weil er bereits öfter handgreiflich geworden war. In der Klinik sind vor allem Straftäter untergebracht. Bestraft im juristischen Sinn wird Niemann aber für seine Tat nicht: „Dass er schuldunfähig ist, hat das Gericht festgestellt“, sagt Höper.
Immer wieder müssen Gerichte sich mit Menschen befassen, die aufgrund ihres geistigen Zustands nicht vernehmungs- oder verhandlungsfähig sind. Angesichts der Alterung der Gesellschaft sind zunehmend Demenzkanke darunter. Die Urteile fallen unterschiedlich aus: So verurteilte das Oberlandgericht Hamm im Jahr 2005 einen Demenzkranken in Abwesenheit. Weil die Verteidigung das Gutachten eines Neurologen vorlegte, laut dem der Mann dem Stress eines Prozesses nicht gewachsen sei, wurde aber anerkannt, dass sein „Fernbleiben nicht schuldhaft“ gewesen sei.
Bundesweite Schlagzeilen machte der Fall von Hans Lipschis: Der gebürtige Litauer diente als Mitglied der Waffen-SS von 1941 bis 1944 im KZ Auschwitz. 2013 begannen Ermittlungen gegen ihn, im Mai wurde er verhaftet und kam in Untersuchungshaft. Ein Prozess wegen Beihilfe zum tausendfachen Mord wurde aber nie eröffnet: Bei Lipschis, damals 94, wurde eine beginnende Demenz diagnostiziert, die es ihm unmöglich machen würde, den Prozess in seiner Gänze zu verstehen. Das Verfahren wurde eingestellt.
Bei einem Verfahren um die gesicherte Unterbringung müssten dieselben Regeln gelten wie bei einem Strafprozess, argumentierte Anwalt Höper im Revisionsprozess: „Ein nicht vernehmungsfähiger Beschuldigter ist zu einer sachgemäßen Verteidigung nicht in der Lage, und es ist unvertretbar, seine Beteiligungsrechte hinter die Sicherungsinteressen der Allgemeinheit zurücktreten zu lassen.“
Der BGH sah das anders: Ein Sicherungsverfahren könne „unabhängig vom psychischen Zustand des Beschuldigten durchgeführt werden“, heißt es im Urteil, das der taz vorliegt. Es liege in der Natur der Sache, dass jemand, für den eine sichere Unterbringung überhaupt im Raum steht, auch im Prozess und in seiner Beteiligung eingeschränkt sei. Dies sei „vom Gesetzgeber bewusst hingenommen worden“. Wichtig sei, dass der Beschuldigte vom Gericht gehört wird – das war in Kiel der Fall.
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