Das Spaghettieis wird 50: Die kalte Cousine der Spätzle
Lange Würmer aus Vanilleeis, dazu quietschrote Soße: So sieht er aus, der Eisdielen-Klassiker. Geboren wurde er vor einem halben Jahrhundert in Mannheim.
Es ist das Schöne an der kulinarischen Welt, dass sie gemeinhin keine Urheberschaft kennt. Die ungezählten Gerichte im globalen Rezeptbuch dürfen nachgekocht, weiterentwickelt, revolutioniert oder gern auch mal vergessen werden. Umso erstaunlicher, ja nachgerade sensationell, wenn ein Gericht auftaucht, von dem nicht nur der Erfinder bekannt ist, sondern auch der Tag der Geburt: Es ist das Spaghettieis, erschaffen vor 50 Jahren, am 6. April 1969 von dem Gelatiere Dario Fontanella, und zwar nicht irgendwo in Florenz, Verona oder Bologna, sondern in Mannheim.
An jenem Frühlingstag, so erinnert sich der Eismacher, habe er das erste Mal eine Spätzlepresse in die Hand genommen und versucht, damit Eis in lange Fäden zu drücken. Weil das Gerät zu warm war, produzierte der 17-Jährige zwar nur Matsch, aber gab sein Unterfangen nicht auf und steckte die Presse ins Eisfach. Nach kurzer Zeit war das Gericht geboren, das bis heute an die große Zeit der italienischen Eisdielen im Westdeutschland der 1970er und 80er-Jahre erinnert. Lange Würmer aus Vanilleeis, quietschrote Erdbeersoße darauf, gekrönt von geriebenem Parmesan aus weißer Schokolade. Für viele bis heute der Inbegriff für das erste unschuldige Date mit jemandem, mit dem man „gehen“ wollte. Für einen sündigen Nachmittag mit Oma. Für viele Ostdeutsche kurz nach dem Mauerfall sogar der Geschmack des Westens, wie Thomas Brussig in seinem Roman „Wie es leuchtet“ erzählt.
Dass das Spaghetti-Eis aus Deutschland stammt, eignete sich bis vor Kurzem nur für die Nummer 654 auf der Liste des unnützen Wissens. Doch so banal ist die Sache nicht. Die Kaltpasta ist zugleich ein sehr hiesiges Gericht geblieben. Eine fein schmelzende süße Mischung, von außen betrachtet aber ein original italienisches Nudelgericht – es gibt kaum ein Land, wo sich solch eine Verkleidung mit der Esskultur vertrüge. Nehmen wir als Beispiel nur Österreich, das mit den Mehlspeisen eine eigene Kategorie süßer Hauptgerichte entwickelt hat. Ein Eis als salziges Pastagericht zu maskieren, gälte hier vermutlich nur als skurril.
Fontanella erzählt, anfangs hätten die Kinder in seiner Eisbude zu weinen begonnen, als das Eis wie ein Teller Mirácoli – seit 1961 auf dem Markt – vor sie gestellt wurde. Erst allmählich kamen sie auf den Geschmack, wahrscheinlich, weil es besser schmeckte als Toast Hawaii, das seinerzeit noch ein Küchenhit war. Das Spaghettieis ist eine Form von Mimikry, die zu einem Land passt, das lange auch mit Analogkäse bestens zurecht kam und heute Veggie-Würste kauft, die oft besser aussehen als die Originale.
Er habe damals an seine Erfindung so geglaubt, dass er sie sogar patentieren lassen wollte, sagt Fontanella, heute 67 und längst Eisfabrikant. Allein die hohe Anmeldegebühr, damals 200 D-Mark, habe ihn abgehalten. Doch womöglich hätte das Spaghettieis sonst seinen Siegeszug durch die Gelatierien Castrop-Rauxels, Korschenbroichs oder Fürstenfeldbrucks gar nicht angetreten. Und die deutsche Küche wäre um ein Gericht ärmer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“