Das Jugendwort des Jahres: „Fly sein“ kennt schon wieder keiner
In einer Onlineabstimmung zum „Jugendwort des Jahres“ lagen „isso“ und „Vollpfostenantenne“ vorne. Bei der Kür des Gewinners spielt das jedoch keine Rolle.
Leere Gesichter bei den Menschen, die in einem Hotel am Hauptbahnhof auf die Verkündung gewartet haben und den Begriff nun wohl zum ersten Mal in ihrem Leben hören. Damit sind sie nicht allein: „Ich hab zuerst gedacht: Das sagt mir gar nichts“, sagt Lutz Kuntzsch von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Mannheim. „Ich hätte mir gewünscht, weil das ein Markenzeichen der Jugend ist, dass irgendetwas Ironisches, Flapsiges oder mit Computertechnik kommt. Aber das war nicht so und jetzt ist es halt ein Lebensgefühl – warum nicht.“
Nun gehört Kuntzsch, Vater eines Sohnes Mitte 20, auch nicht mehr zur Zielgruppe, wie er selbst einräumt – ebenso wenig wie „Jugendwort“-Jurymitglied Isabelle Deckert von der ProSieben-Sendung „Taff“, die für „Fly sein“ gestimmt hat, obwohl ihr der Begriff erstmal nichts sagte.
Der 19 Jahre alte Maximilian Knab aus Amberg, der als ehemaliger Chefredakteur einer preisgekrönten Schülerzeitung in der Jury sitzt, muss zugegeben: Gehört hat er den Begriff schon mal, benutzt noch nie. Seinem Kumpel Julian Prechtl (18) geht es genauso.
„Isso“ war zu unkreativ
„Wir haben das Wort gar nicht entdeckt“, sagt der Sprachwissenschaftler Nils Uwe Bahlo von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er hat nichts mit der Wahl zum „Jugendwort des Jahres“ zu tun, befasst sich aber seit Jahren mit dem Phänomen Jugendsprache und dokumentiert jährlich anhand von authentischen Gesprächen, wie Jugendliche sprechen. Der Begriff „Fly sein“ passe aber durchaus zur Jugendkultur: „Emotionsbekundende Floskeln passen auf jeden Fall.“ Die Wahl zum „Jugendwort“ biete zwar immer wieder die Möglichkeit, über Sprache zu reden, sie sei aber „ziemlich unwissenschaftlich“: „Wenn überhaupt, wird nur Sprachwissen abgefragt und nicht Sprachgebrauch.“
Die Alternativen zu „Fly sein“ erschienen der Jury weniger brauchbar. Der Begriff „isso“ (Zustimmung oder Unterstreichung von etwas), mit 20 Prozent in einer Online-Abstimmung vor der Wahl vorne und auch in Bahlos Untersuchungen oft aufgetaucht, war zu unkreativ (Deckert: „Den benutzt auch mein Papa“), „Hopfensmoothie“ (Bier) könnte Alkohol verherrlichen und „Tindergarten“ (für eine Sammlung von Online-Kontakten) die Promiskuität. „Vollpfostenantenne“ als Bezeichnung für einen Selfiestick fiel bei der Jury durch, „weil heute keiner mehr Vollpfosten sagt“, meint Knab.
„Fly sein“ stellt sich in eine Reihe von Begriffen, die in schöner Regelmäßigkeit Zweifel daran säen, ob diese „Jugendwort“-Wahl wirklich irgendeinen Realitätsbezug aufweisen kann. „Smombie“, die Bezeichnung für einen Smartphone-Zombie, der von seiner Umwelt nichts mehr mitbekommt, im vergangenen Jahr kannten noch nicht einmal die Youtube-Stars „Die Lochis“. Eine Ausnahme: „Läuft bei Dir“, das „Jugendwort“ 2014, war nach allgemeiner Einschätzung tatsächlich Teil der herrschenden Jugendkultur.
„Fly sein“ mit Zukunft
Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass der „Jugendwort“-Titel die Karriere des Gewinners erst so richtig beflügelt – so geschehen beispielsweise beim Gewinner-Wort von 2013, „Babo“, das an den türkischen Begriff für Vater erinnert und hierzulande vor allem von Rapper Haftbefehl aus Offenbach verbreitet wurde, bevor es durch die Kür bundesweit bekannt wurde.
Nach der Wahl von „Babo“ im Jahr wurde änderte die Bild-Zeitung ihr Impressum, nannte den damaligen Chef Kai Diekmann nicht mehr „Chefredakteur“, sondern „Babo“ – und katapultierte das Wort so wohl auch direkt wieder raus aus der Jugendsprache in den Alltagsgebrauch älterer Semester.
„Es ist ein Phänomen des Jahres 2016“, betont dagegen die Sprachwissenschaftlerin Susanne Schräder, ebenfalls Jury-Mitglied. „Fly sein“ sei gerade erst auf dem Sprung in den Sprachgebrauch von Jugendlichen. „Wir sehen eine Zukunft für das Wort.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!