Das Jahr: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?
2017 ist (fast) rum. Wir haben da aber noch ein paar Fragen. Zur Lage der Nation, der Welt und überhaupt. Und die kann uns nur einer beantworten.
t az: Sigmar Gabriel gibt im Januar den SPD-Vorsitz an Martin Schulz ab. Es folgen: Schulz-Hype, Schulz-Zug, Umfragehoch, Wahl zum Vorsitzenden mit 100 Prozent. Und dann: Die SPD verliert erst moderat im Saarland, schlimmer in Schleswig-Holstein und katastrophal in Nordrhein-Westfalen. Die Bundestagswahl wird ein Desaster. Woran lag ’s?
Friedrich Küppersbusch: Alle elf Sekunden verläuft sich ein Sozi in Merkel. Schulz startete kantig und von Agenda und Groko scheinbar unvorbelastet. Das genügte, die SPD an ihre wilde Jugend zu erinnern. Nach der Saar-Wahl warf sie die Option R2G weg, ab da fehlte der Zaubertrank „eigene Mehrheit“. Direkte Angriffe auf Merkel ließ er sich bis zum Wahlabend wegberaten, als er sie „Ideenstaubsauger“ zieh und endlich das machtvolle „Wir werden Würselen“-Gefühl noch mal wehen ließ. So torkelte die SPD einmal mehr ohne Machtvorschlag, mit einem unklaren Kandidaten und ohne gesellschaftlichen Gegenentwurf durch den Wahlkampf – Ideenstaubsaugervertreter, darf ich Ihnen mal die Auslegeware im Kanzleramt sondieren?
Im Februar gibt das britische Unterhaus Theresa May den Auftrag, mit der EU über den Brexit zu verhandeln. Drei Monate später verliert May die absolute Mehrheit, die Brexit-Verhandlungen kommen nur zäh in Gang. Wird das noch was?
Chaotische Verhandlung, die Zufallsmehrheit für den Brexit und inzwischen Sorgen über wirtschaftliche Verluste: Könnte man Labours Catweazle Jeremy Corbyn mit Macron oder Trudeau klonen, wäre das erstens ein sexy Linkspopulist und zweitens der Mann der Stunde. Die Kunst dürfte sein, die Wut auf „die da oben“ von der EU wegzulenken auf – irgendetwas anderes Böses. Kapitalismus, Globalisierung, irgendeine Schnapsidee halt. Vielleicht gelingt es den Eurokraten, den Brexit so ekelhaft zu gestalten, dass sich ein neuer Claim ergibt: „Rache an der EU – wir bleiben drin!“ Zu wünschen wär’s.
Im März sterben fünf Menschen in London bei einem Terrorangriff in der Nähe des Parlaments und auf der Westminster Bridge. Es folgen Anschläge in Stockholm, St. Petersburg, London, Paris, Manchester, Brüssel, Barcelona, New York, Las Vegas, Ägypten. Haben wir uns an den Terror gewöhnt – oder haben wir uns an ihn zu gewöhnen?
Gemeinsamer Nenner der blutigen Revue ist Verrohung – weit eher als ein eindeutiger ideologischer Gegner. In dieser Summe erweist sich Terror als stumpfe Waffe: Was wer wem damit sagen wollte, nebelt diffus über den Blutlachen. Wie jeder andere Psychopath hat der Terrorist Anspruch darauf, ordentlich Realität vor den Kopf geknallt zu bekommen. Der Terror sollte sich nicht an uns gewöhnen.
Der türkische Präsident Erdoğan lässt im April das Volk über eine Änderung der Verfassung abstimmen, die es ihm erlaubt, den Staat in ein Präsidialsystem umzubauen. Er bekommt dafür eine knappe Mehrheit. Derweil sitzt der deutsche Journalist Deniz Yücel ohne Anklage im Knast. Wie weiter mit dem Land?
Deutschlands Haltung zur werdenden Diktatür reicht von Merkels Vollverschleierung aller Absichten bis zu Gabriels Attacken gegen den Antitürk. Noch näher liegt allerdings, die türkischstämmigen Deutschen hier zu unterstützen und ihren Gemeinschaften zu geben, was der Bundespräsident am Tag der Deutschen Einheit verhieß: „Heimat liegt in der Zukunft.“ Erdoğan zupft am Jojo der Menschenrechte. Wenn es mal einen gut deutschnationalen politischen Ansatz gibt, dann: Das tun wir nicht.
In Frankreich siegt Emmanuel Macron und wird mit 39 Jahren jüngster Präsident Frankreichs. Ist, vom Glamour abgesehen, auch was Politisches von ihm übrig geblieben?
Allez les bleus! Der europäische Laster hat ein Rad ab, Großbritannien, und das deutsche eiert unregiert. Macron tritt gegen die zersplitterte Gewerkschaftsmacht Frankreichs an, das beurteilt sich kaum nach deutschem Brauch der Einheitsgewerkschaft. Wichtiger: seine Vorschläge zu Finanzen und europäischem Haushalt. Einfacher: Wenn der Staat den Markt beherbergt, ist es keine kommunistische Idee, den Staat näherungsweise so groß zu machen, wie der Markt längst ist. Was der Markt alleine hinkriegt, kann man sich nicht zuletzt in den Wahlergebnissen der Rechtspopulisten anschauen: Ungerechtigkeit. Heikel die deutsche Position dazu: Macrons Vorschläge zu Europa bleiben unbeantwortet, weil man nur geschäftsführend ist. Während seine „europäische Armee“ bereits unterstützt wird – da darf Geschäftsführung kein Hindernis sein.
Im Rekordtempo peitscht die Bundesregierung im Juni die Ehe für alle durch. Merkel macht die Frage quasi über Nacht zur „Gewissensentscheidung“, und schwupp, vier Tage später votiert eine große Mehrheit der Abgeordneten für die Ehe von Schwulen und Lesben. Dabei war Merkels Kehrtwende offenbar reine Wahlkampftaktik. Schlimm?
Merkels Banner: Wer nicht Teil der Lösung ist, ist Teil des Problems. So gesehen fragt sich, ob sie je anders als geschäftsführend regiert hat, die Mehrheit im Blick und schneller als jeder Hase: Fly like an Igel. Die stramme Zustimmung zur Ehe für alle war tragische Pointe unter einer Legislatur, in der Rot-Rot-Grün vier Jahre die Mehrheit hatte. Willy Brandt wünschte sich mal den Satz: „Man hat sich bemüht“, als Nachruf; hier hieße er: „Man hätte sich bemühen können.“
Die Staatschefs verhandeln beim G20-Gipfel im Juli mit großen Worten, aber mäßigem Erfolg, während in Hamburg Barrikaden brennen und Geschäfte geplündert werden. Welche dieser beiden Strategien hält die Globalisierung effektiver in Schach?
Für die Ausschreitungen hat sich Olaf Scholz entschuldigt. Für G20 steht Ähnliches noch aus.
Im August demonstrieren Ultrarechte in Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia. Ein Neonazi fährt mit seinem Auto in Gegendemonstranten und tötet eine junge Frau. US-Präsident Donald Trump tut sich sehr schwer, die rechte Gewalt zu verurteilen, zeigt dafür aber an anderer Stelle Härte: Via Twitter fordert er Nordkorea auf, den USA nicht mehr zu drohen. Sonst werde er „Feuer und Zorn“ sprechen lassen. Hatten Sie sich die Regentschaft von Trump in etwa so vorgestellt?
Trump ist in Wirklichkeit noch viel dämonischer! So skrupellos, dass er nicht davor zurückschreckt, uns den 1992er Slogan von Bill Clinton zuzupoltern: „It’s the economy, stupid.“ Muss er gar nicht, die US-Wirtschaftsdaten sind blendend, und bevor der Schuldenvulkan losbricht, kann er ein zweites Mal gewählt sein.
Nach der Bundestagswahl im September jubelt eigentlich nur eine Partei: die AfD. Mit knapp 13 Prozent zieht sie in den Bundestag ein, doch schon am nächsten Tag beginnt ihr Zerfall. Frauke Petry verkündet ihren Rückzug aus der Partei, ihr Ehemann, der NRW-Landes- und Fraktionschef Marcus Pretzell folgt ihr. Wie kann Petry jetzt noch politische Karriere machen?
Mählich bekommt es etwas Serielles: Lucke, Petry, jetzt Weidel – am Ende isses Gauland wurscht, wer neben ihm die Medien bespaßt. Er selbst war länger in der CDU als Angela Merkel und weist die AfD damit als älteste der Altparteien aus. Petry hat was Sektenführerhaftes, von Storch Gedankendurchfall, und viele weitere Talkshow-Aufreger werden noch kommen und gehen. Weder die personellen Kirmesattraktionen noch die alten Stinkstiefel werden die Zukunft der AfD sein. Es ist ein Wettlauf: ob sie implodiert oder einen deutschen HC Strache findet.
Im Oktober wird öffentlich, dass der Hollywoodproduzent Harvey Weinstein über Jahrzehnte Schauspielerinnen sexuell belästigt, begrapscht, erpresst, unter Druck gesetzt und vergewaltigt haben soll. Unter dem Hashtag #metoo folgt eine Debatte über sexuelle Belästigung, weitere Anschuldigungen gegen Politiker, Schauspieler und Journalisten werden laut. Einige verlieren ihren Posten.
Stimmt. Mal was anderes: Männer sterben im Schnitt fünf Jahre früher, ihre Selbstmordrate ist dreimal so hoch wie die der Frauen, 75 Prozent aller Obdachlosen sind Männer, und überhaupt: Zum Erscheinen des Statistischen Jahrbuches sollten wir Jungs uns zu einem mächtigen Trauerzug zusammenfinden. Bei alkoholfreiem Bier diskutieren wir dann, dass diese Zahlen keinesfalls biologisch bedingt sind – sie variieren von Gesellschaft zu Gesellschaft. Und dann folgern wir, dass die vermeintliche Herrenrolle eine mäßig hübsche Verpackung um beschissene Geschlechterzuschreibungen ist und wir alle eine #metooerstrecht-Armbinde tragen künftig.
Im November stellt die FDP ihr Wahlkampfmotto unter Beweis: Sondierungen first, Bedenken second. Jamaika scheitert am Nein der FDP. War das feige oder geradlinig von Christian Lindner?
Wenn ein deutscher Außenminister mit Trump, Putin, Erdoğan, der EU verhandelt und nach vier Wochen nachts beleidigt rausläuft: „Die anderen haben mich nicht mitspielen lassen, die sind alle doof, und ich hab keine Lust mehr!“ – dann ist es vor allem eines: richtig. Lindner und Kubicki haben zusammen null Sekunden Regierungserfahrung. Die Pose, Überforderung als Heldenmut zu verkaufen, zielt auf die B-Note für den künstlerischen Eindruck. Die FDP ist nicht regierungsfähig, und irgendwie hat es der Weltgeist geschafft, es durch sie hindurchzutranszendieren.
Im Dezember warten wir auf eine Regierung, auf eine erneuerte SPD, erneuerte Grüne und auf ein frohes neues Jahr. Erwarten wir vielleicht zu viel?
Wir hätten auch noch „100 Jahre Erster Weltkrieg vorbei“ und „50 Jahre 1968“ im Angebot. Eine von propagandistischen Interessen zerfräste Fußball-WM in Russland und Ministerien allein zu Haus in Berlin. Über allem aber: 73 Jahre kein Krieg auf deutschen Boden. Danke. Frohes Neues!
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