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Das Geschäft mit den Studis

Ritik Yadav und Shivam Kumar sind vom deutsch-indischen Migrationsabkommen nach Deutschland gelockt worden. Sie wollten hier studieren, einen guten Job finden. Jetzt geht es ihnen dreckig und alle verdienen mit

Von Nina Scholz (Text) und Tina Eichner (Fotos)

Ritik Yadav sitzt im Sommer 2022 mit seiner Mutter in Kanpur im Nordosten von Indien vor dem Fernseher. Gemeinsam sehen sie sich einen Werbespot für Universitäten im Ausland an. Seine Mutter fragt ihn: „Wäre das nicht auch etwas für dich?“ Ritik Yadav ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt und hat einen Bachelor-Abschluss in Business Administration, aber er weiß nicht so recht, wie es für ihn weitergeht. Er hat zwar eine eigene kleine Firma aufgebaut, in der er Kurkuma verarbeitet und an Kosmetikhersteller verkauft, aber das läuft nicht so gut.

Die wirtschaftliche Situation in Kanpur ist schwierig. Die Stadt, die einst ein Zentrum für Textilverarbeitung war, sei mittlerweile deindustrialisiert worden, viele gut bezahlte Jobs gebe es dort nicht mehr. Das alles erzählt der junge Inder an einem Tag im Januar in einem Café in der Nähe des S-Bahnhofs Lichtenberg in Berlin. Ritik Yadav ist ein ruhiger Mann, der leise und mit Bedacht spricht. Er heißt eigentlich anders. Um ihn vor möglichen Konsequenzen zu schützen, wird hier ein Pseudonym verwendet.

An jenem Tag vor drei Jahren rief er zusammen mit seiner Mutter die Telefonnummer aus dem Werbespot an und vereinbarte einen Termin mit einem Berufsberater von Up-Grad, einem erfolgreichen indischen Start-up für Online- und Auslandsstudienvermittlung. „Er hat mir vorgeschlagen, dass ich einen Master in Internationalem Management in Berlin mache“, erzählt Yadav. Er habe zugesagt. Denn er und seine Familie hoffen, dass sich so sein Traum von einer Karriere und einem gut bezahlten Job erfüllt. Ein deutscher Masterabschluss könnte seine Chancen auf dem indischen Arbeitsmarkt erhöhen. Yadav wünscht sich aber eigentlich, in Europa leben und arbeiten zu können.

Ritik Yadav ist nicht der einzige indische Student, der den Schritt nach Deutschland gewagt hat. Mittlerweile leben 43.000 indische Studierende hier. Damit stellen sie die größte Gruppe internationaler Studierender an deutschen Universitäten. Ihre Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verzehnfacht – kein anderes Herkunftsland hatte ein so starkes Plus. Seit dem Migrationsabkommen zwischen Indien und Deutschland, das im März 2023 in Kraft trat, erleichtert Deutschland Inderinnen und Indern die Einreise.

Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser warb in diesem Rahmen bereits 2022 dafür, dass Studierende aus Indien nach Deutschland kommen. Sie begrüßte das als wichtigen Schritt, um die hierzulande so dringend benötigten Fachkräfte ins Land zu holen. Denn die werden mittlerweile branchenübergreifend benötigt. In den Pflege- und Erziehungsberufen, der Bau- und IT-Wirtschaft sind die Lücken aktuell besonders groß.

Faeser sagte damals: „Wir stellen die Weichen dafür, dass qualifizierte junge Inderinnen und Inder in Deutschland (…) studieren (…) können.“ Aber stimmt das wirklich? Hat sich Deutschland auf die Studierenden aus Indien und damit auf die potenziellen neuen Arbeitskräfte vorbereitet?

Ritik Yadav jedenfalls wird nach seiner Ankunft zahlreiche Hürden und Enttäuschungen erleben. Das Studium wird anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hat. Er wird von Wohnung zu Wohnung ziehen, Geldprobleme bekommen. Und er wird einer von den vielen indischen Kurierfahrern werden, die mittlerweile in Berlin das Stadtbild bestimmen. Sein Kommilitone Shivam Kumar hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Auch er, dessen Name aus denselben Gründen anonymisiert wurde, wird Teil dieser Geschichte sein. Sie steht exemplarisch für das Schicksal vieler indischer Studierender in Deutschland.

Doch bevor es für Ritik Yadav nach Berlin geht, wird es noch ein ganzes Jahr dauern. Die ersten beiden Semester seines Masterstudiums bestehen nur aus Online-Seminaren, die er von der Wohnung seiner Eltern aus besucht. So sieht es das Studienmodell der International University (IU) mit Standort in Berlin vor. Das Studium ist eine große Investition für Yadav und seine Familie. Er hat Indien noch nicht verlassen, da hat er bereits über 22.000 Euro dafür ausgegeben.

Rund 3.000 Euro kostet allein das erste Studienjahr, 18 Prozent Vermittlungsgebühr gehen einmalig an Up-Grad. Hinzu kommen 7.268 Euro Studiengebühren für ein weiteres Jahr an der IU und 354 Euro für das Flugticket nach Berlin. Obendrein 11.208 Euro, die er auf ein Sperrkonto überweisen muss. Dies ist im Rahmen eines Visumverfahrens für ausländische Studierende Pflicht, so das Auswärtige Amt auf seiner Website. In Indien hat Yadav deswegen einen Kredit von umgerechnet 17.700 Euro aufgenommen. Den Rest habe ihm sein Vater dazugegeben, erzählt er. „Meine Eltern wollen, dass ich ein gutes Leben habe. In Indien wird das schwer.“ Diese Schulden lasten auf Yadav.

Das soll eine Hochschule sein?

In Indien hat er einen Kredit von umgerechnet 17.700 Euro aufgenommen

Im Oktober 2023 sei es für ihn dann endlich nach Berlin gegangen, berichtet Yadav weiter. Doch seine Studienzeit in der Hauptstadt verläuft anders, als er sich das erhofft hat. Yadav ist enttäuscht, als er das Gebäude seiner Hochschule zum ersten Mal betritt. „Das ist doch keine richtige Uni“, habe er gedacht.

Die Internationale Hochschule IU ist mit 130.000 Studierenden die größte Hochschule Deutschlands und sie ist privat. Hierzulande hat sie neben Berlin noch 38 weitere Standorte und bietet darüber hinaus auch ein Fernstudium an. Gegründet wurde die IU 1998 in Bad Honnef in Nordrhein-Westfalen, mittlerweile ist der Firmenhauptsitz in Erfurt in Thüringen.

Die Räume des Berliner Standorts befinden sich im Plaza-Gebäude, einer schmucklosen Mall, die Mitte der 1990er in der Frankfurter Allee in Berlin-Friedrichshain eröffnet wurde. Im Plaza hat die IU mehrere Büroetagen gemietet, in denen sich vor allem Seminarräume und Kaffeenischen befinden. Ansonsten gibt es im Gebäude einen asiatischen Imbiss, einen Supermarkt, eine Post, einen Zeitungskiosk und ein paar andere Geschäfte, aber nichts, was wirklich an einen Uni-Campus erinnert. Haben die Bilder in der Werbung, die er mit seiner Mutter im Fernsehen gesehen hat, etwas anderes suggeriert?

Yadav sagt: ja. Die Enttäuschung ist ihm anzumerken. Aber ist er wirklich betrogen worden? Auf der Instagram-Seite von Up-Grad finden sich auch heute noch Videos, die das Studieren in Deutschland anpreisen: Karriere­optionen bei Firmen wie Siemens, BMW und „Volkswagon“ (sic), Musikfestivals, bayerische Volksfeste und Brezeln werden dort eingeblendet. Hinzu kommen Youtube-Videos, in denen es heißt: „Deutschland ist die Heimat der besten technischen Universitäten der Welt.“ In den Videos sieht man Ausschnitte von Berlin, die den Fernsehturm oder das Rote Rathaus zeigen, ohne sie einzuordnen.

Die Räumlichkeiten der IU bleiben aber nicht die einzige Enttäuschung für Yadav. Die meisten seiner Studienkollegen kämen, genau wie er, aus Südasien, erzählt der junge Mann. Dabei sei er nach Deutschland gekommen, um die Kultur besser kennenzulernen und sich hier ein Leben aufzubauen, so wie die Werbung es versprochen hat. „Aber wie soll ich das machen, wenn meine Kommilitonen aus Indien, Bangladesch und Pakistan kommen? Wenn wir hier unter uns bleiben?“, fragt er. Yadavs Kurse sind in Englisch, ein Deutschkurs sei bislang nicht angeboten worden.

Am Berliner IU-Standort kommen 40,6 Prozent aller Studierenden aus Indien und 36,9 Prozent aus Deutschland, so die Hochschule. In den Räumlichkeiten der IU ergibt sich ebenfalls ein gemischtes Bild: Man trifft hier auf viele Studierende aus Südasien, aber auch auf deutsche Studierende. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass die Gruppen lieber unter sich bleiben. Zumindest auf den Fluren scheint es keinen großen Kontakt zwischen ihnen zu geben.

Es wirkt, als habe sich die IU mit den indischen Studierenden ein neues Geschäftsfeld erschlossen. Ihre Zahl ist am Berliner Standort stark gestiegen: 2020 studierten dort nur 234 Inderinnen und Inder, heute sind es insgesamt 4.842 Inderinnen und Inder, inklusive derer, die die Onlinekurse besuchen und nicht in der Stadt sind.

Aber auch die Studierenden in Berlin müssen Onlinekurse besuchen, berichtet Ritik Yadav. „Von den 18 Fächern, die ich belegt habe, fanden nur zwei auf dem Campus statt, alle anderen waren online.“ Seine Dozenten würden oft gar nicht in Berlin leben, sagt er. Kurse würden manchmal ausfallen, weil die Internetverbindung schlecht sei. Für einen Kurs habe es nicht mal einen Dozenten gegeben, nur Onlinevideos. Ein anderes Mal sei ihm ein Kurs zugeteilt worden, der gar nicht zu seinem Studium gehören würde. Die IU widerspricht: „Lediglich in Ausnahmefällen, aufgrund kurzfristiger Krankheit und ohne Möglichkeit eines Ersatztermins, werden einzelne Live-Tutorien online angeboten.“

Das größte Problem für Ritik Yadav ist aber, dass er, im Gegensatz zu seinem ersten Studienjahr in Indien, keinen Ort hat, an dem er in Ruhe an den Onlinekursen teilnehmen kann. Die IU habe keine richtige Bibliothek und kaum Räumlichkeiten zum Lernen, die sie den Studierenden zur Verfügung stellt. Für Yadav ist das ein großes Problem, denn seine Wohnsituation ist von Anfang an schwierig.

„Der Arbeitgeber ist in einer viel stärkeren Position als der indische Studierende, der seine Wohnung nicht verlieren darf, weil er Visa-Probleme bekommt“

Aju John, Ethnologe

Er hatte bereits von Indien aus versucht, ein Zimmer oder eine Wohnung zu finden, ohne Erfolg, es gab kaum Auswahl, die Mieten waren zu hoch, erzählt Ritik Yadav. In Berlin angekommen, ist die Situation nicht besser, aber die Zeit drängt. Innerhalb von zwei Wochen braucht er eine Meldeadresse, die er dem Einwohnermeldeamt mitteilen kann. Nur so kann er einen legalen Aufenthaltsstatus bekommen. Die ersten Tage wohnt er in einem Hostel, dann geben ihm andere indische Studierende, die er dort trifft, eine Nummer von jemandem, der ihm ein möbliertes Zimmer vermitteln kann. Dort ruft Ritik Yadav an. „Er hat 1.000 Euro Vermittlungsgebühr, 1.200 Euro Kaution und 1.800 Euro Miete verlangt. Die sollten wir jeden Monat in bar bezahlen.“ Belege gibt es nicht.

Die Wohnung von Bilal – ein Mann, von dem Ritik Yadav bis heute nur den Vornamen weiß – liegt in Moabit. Laut Yadav bietet Bilal in seinem Whatsapp-Status täglich mehrere solcher möblierten Apartments überall in Berlin an. Yadavs erste Wohnung ist klein, 40 Quadratmeter. Gemeinsam mit drei anderen indischen Studierenden mietet er sie an, sie teilen sich die Kosten. Zwei seiner Mitbewohner schlafen in der Wohnküche, Yadav und ein weiterer Mitbewohner teilen sich ein kleines Zimmer. „Es gab keinen Platz zum Aufhängen der Kleidung, ich musste den Koffer öffnen und meine Sachen herausnehmen und wieder hineinlegen. Niemand von uns hatte einen Schreibtisch zum Lernen.“ Also zieht Ritik Yadav damals mit seinem Laptop von Café zu Café, von öffentlicher Bibliothek zu öffentlicher Bibliothek, um seine Onlinekurse zu besuchen. Er wirkt müde und traurig, als er fragt: „Wie soll man unter diesen Bedingungen lernen?“

Der Zustand der Wohnung sei ebenfalls schlecht gewesen. „Es war ständig etwas kaputt und der Vermieter hat sich nicht gekümmert.“ Ritik Yadav zeigt Bilder von verdreckten Rohren, von Schimmel, von renovierungsbedürftigen Räumen. Immer wieder wechselt er die Wohnung, insgesamt sieben Mal, seit er in Berlin angekommen ist. Und seine Wohnsituation bleibt schlecht. Mal mietet er bei privaten Vermietern, die die Miete bar einsammeln, erzählt er, mal wohnt er zur Untermiete, mal ist er der Hauptmieter, schließt einen Vertrag bei einer Wohnungsvermittlung für möbliertes Wohnen ab und vermietet unter. Er sucht seine Wohnungen im Internet, findet sie über andere indische Studierende und über eine Whatsapp-Gruppe.

Die Gruppe hat knapp 800 Mitglieder, viele indische Namen finden sich dort. Angeboten werden Kurzzeitvermietungen für zwei, drei, vier Studierende pro Zimmer. Die Mieten liegen selten unter 600 Euro pro Mieter. Oft wird die Entfernung zur Internationalen Hochschule (IU) gleich mit angegeben. Mittlerweile wohnt Ritik Yadav in einem Studierendenwohnheim im Berliner Bezirk Marzahn. Er hat dort zum ersten Mal ein Zimmer für sich allein. „Ich habe Glück gehabt“, sagt er. Allerdings sei das Zimmer auch wieder nur befristet.

Ritik Yadav und seinen Kommilitonen bleibt kaum etwas anderes übrig, als sich die teuren, möblierten Wohnungen zu teilen. „Die Studierenden aus Südasien suchen erst mal nur eine kurzfristige Bleibe. Sie wollen nur ein, zwei Jahre hier studieren und wissen nicht, wie es dann für sie weitergeht“, erklärt Aju John in einem Café in Berlin-Schöneberg. John war in Indien als Anwalt tätig, bevor er 2020 ebenfalls nach Deutschland kam. Derzeit forscht er für seine Doktorarbeit am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin über indische Studierende aus Südasien. Deren Wohnsituation sei oft deshalb so schlecht, weil sie unter Zeitdruck stünden, sagt Aju John, und weil sie einen ausländischen Namen hätten, mit dem man häufig benachteiligt wird.

Gleichzeitig wächst der Wohnungsmarkt für möbliertes Wohnen. In Berlin sei im Schnitt inzwischen bereits jedes dritte Mietangebot eine möblierte Wohnung, heißt es beim Vermittlungsportal Immobilienscout 24, und für die gelten Regularien wie die Mietpreisbremse nicht. Im Durchschnitt werden möblierte Wohnungen in Berlin für 25,45 Euro pro Quadratmeter angeboten, unmöblierte Wohnungen liegen bei 15,74 Euro. So hat es die Investitionsbank Berlin 2024 ermittelt.

Ritik Yadav bekommt aber noch ein weiteres Problem: Ihm geht das Geld aus. Sein monatliches Budget von 700 Euro reicht irgendwann nicht mehr. Im Dezember 2023 fängt er als Kurierfahrer bei einer Schnellrestaurantkette in Prenzlauer Berg an. Er ist jetzt einer der vielen Kurierfahrer aus Südasien. „Sie machen mittlerweile den Großteil der Beschäftigten der Lieferdienste aus“, sagt Aju John.

Yadav berichtet, dass seine Arbeitstage oft von langen Wartezeiten geprägt gewesen seien. Er habe dann vor dem Laden gesessen und darauf gewartet, dass eine Bestellung reinkommt. Die zusätzlichen Stunden, die er damit auf der Arbeit verbracht hätte, habe er aber nicht entlohnt bekommen. Hinzu kam, dass er länger eingesetzt wurde, als es rechtlich zulässig ist. 20 Stunden darf er wöchentlich arbeiten. Das regelt das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Manchmal hätte aber schon ein einziger Arbeitstag 12 Stunden gedauert, sagt Ritik Yadav. Oft habe er Angst gehabt, dass er wegen der langen Schichten die Onlinekurse nicht besuchen kann, dass er sein Visum verliert.

Im März 2023 habe er seinen ersten Job aber bereits wieder verloren. „Ich bin im Schnee ausgerutscht und habe mich verletzt“, erzählt Ritik Yadav. Er meldet sich krank – und wird entlassen. Bis heute habe er für die Zeit seiner Krankmeldung kein Gehalt bekommen.

„Wir kommen hierher, um zu studieren und einen guten Job zu finden. Dafür verschulden wir uns, aber am Ende behandelt man uns wie Sklaven“

Ritik Yadav, Student

Ihre Notsituation wird ausgenutzt

Auch mit dieser Erfahrung steht Yadav nicht allein da. „Die Studierenden aus Indien, Pakistan und Bangladesch müssen, nachdem sie hier angekommen sind, meist schnell Arbeit finden“, sagt Aju John. In Indien kläre sie niemand darüber auf, was für Kosten auf sie zukommen, wie ihre Lebenssituation hier sein wird. „Die Arbeitgeber nutzen aus, dass die internationalen Studierenden unter finanziellem Druck stehen.“ Das führe zu einer Machtasymmetrie: „Der Arbeitgeber ist in einer viel stärkeren Position als der indische Studierende, der seine Wohnung nicht verlieren darf, weil er dann Visa-Probleme bekommt.“ Die Studierenden aus Südasien würden aber nicht nur bei Lieferdiensten arbeiten, sagt John, sondern auch in Gastro­küchen, in Logistikzentren oder als Paketauslieferer. Entscheidend für ihre Anstellung sei meist nur, dass sie Englisch sprechen. Aber gerade diese Sprachbarriere und die Unkenntnis über ihre Arbeitsrechte machten sie anfällig für Ausbeutung.

„Was diese Branchen gemeinsam haben, sind die Probleme, die die Beschäftigten damit haben, ihre Arbeitsrechte durchzusetzen“, sagt Ver.di-Pressesprecher Kalle Kunkel. Es gebe nur selten Betriebsräte, fast nie Tarifverträge, stattdessen viele kurzfristige Verträge, mehrsprachige Belegschaften und Beschäftigte, die Angst vor den Arbeitgebern hätten. Dies sei auch eine Herausforderung für die Gewerkschaft.

Lange Arbeitszeiten, Wohnungs- und Jobwechsel, kaum Privatsphäre, Onlinekurse, ein fremdes Land – all das hält Ritik Yadav nicht vom Studieren ab. Im Winter 2024 habe er alle notwendigen Kurse abgeschlossen, sagt er, aber im März 2025 in drei Fächern immer noch auf seine Noten gewartet. Er habe mehrfach versucht, die IU zu kontaktieren, sowohl per E-Mail als auch telefonisch, allerdings ohne Erfolg. Es habe dann acht Monate gedauert, bis er in einem Fach seine Noten bekommen habe. Die Studiengebühren habe er zunächst weiterzahlen müssen. Auch andere indische Studierende der IU berichten von langen Wartezeiten auf ­E-Mails, wenn sie Probleme mit ihrem Studium hatten. Die IU widerspricht: „Die übliche Reaktionszeit bei schriftlichen Anfragen liegt bei wenigen Tagen, aber nicht mehreren Wochen.“

Anfang des Jahres spitzt sich die Lage für viele indische IU-Studierende dann aber noch mal dramatisch zu, als das Berliner Landesamt für Einwanderung (LEA) mehrere Anträge auf Visa-Verlängerung ablehnt. Einer von ihnen ist Shivam Kumar. Sein Antrag ist am 18. März 2025 abgelehnt worden. Die Begründung: Aus seinen Studienbescheinigungen würde nicht ersichtlich, dass er ein Präsenzstudium bestreitet. „Es ist durchaus möglich, dass Sie (…) ein Fernstudium absolvieren“, heißt es dort. Eigentlich sollte die Verlängerung reine Routine sein, so dachte er zumindest.

Shivam Kumar ist 30 Jahre alt und genau wie Ritik Yadav über die Vermittlung von Up-Grad an die Berliner IU gekommen. Bevor er nach Deutschland gezogen ist, hat er in Indien bereits fünf Jahre in der IT-Branche und sieben Jahre als Kampfpilot in der indischen Luftwaffe gearbeitet, erzählt er. Auch er wohnt in Berlin in einer engen Wohnung, er arbeitet in der Gastro. Als er den Brief bekommt, in dem steht, dass sein Visum nicht verlängert wird und er Deutschland verlassen soll, hat er nur noch ein halbes Jahr bis zum Masterabschluss vor sich. Im Gegensatz zu Yadav habe er die meiste Zeit am Campus studiert, sagt Kumar. Sein Vertrag weist ein Präsenzstudium aus.

Seit der Ablehnung des LEA ist die Situation für ihn und 450 seiner Kommilitonen – so viele Studierende sind laut IU ebenfalls betroffen – unübersichtlich. „Wir haben der Uni mehrmals geschrieben, wir haben dem LEA geschrieben, aber von beiden mehrere Wochen nichts gehört.“

Shivam Kumars Studenten­visum wurde abgelehnt. Jetzt hat er zwar eine Übergangs­bescheinigung bekommen, Sorgen macht er sich trotzdem

Shivam Kumar ist zu diesem Zeitpunkt wütend. Er überlegt mit anderen Betroffenen, einen Protest zu organisieren. „Aber wir wollen auch nicht als Ruhestörer gelten. Wir wollen schließlich hier bleiben und weiterstudieren.“

Warum hat das Landesamt für Einwanderung die Visa-Anträge überhaupt überprüft? Warum hat es die Visa erst bewilligt und später widerrufen? Ein Sprecher des Landesamtes für Einwanderung bestätigt auf Anfrage der taz lediglich, „dass das LEA regelmäßig im Zusammenhang mit Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen (…) prüft, ob die allgemeinen und besonderen gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen“ vorlägen. Migrationsanwalt Stanislaw Stroh, der Kontakt zu den Studierenden hat, argumentiert im Telefongespräch mit der taz, dass das Landesamt für Einwanderung mit den Ablehnungen formal juristisch sogar richtig handele: „Sobald ein Studium im Fernstudium absolviert werden kann, gibt es keinen Bedarf für einen langfristigen Aufenthalt in Deutschland.“ Dies sei ein Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz.

Das erklärt aber nicht, warum das LEA die Visa-Anträge der indischen Studierenden vor ihrer Einreise nach Deutschland genehmigte und warum es jetzt plötzlich ein Problem darin sieht. Hat das LEA mitbekommen, dass die IU eventuell mehr Kurse online als in Präsenz anbietet? Eine Vermutung, die sich nicht beweisen lässt.

Die IU sucht im Hintergrund ihrerseits den Kontakt zum Landesamt für Einwanderung. Bereits am 6. März 2025 hatte sich die „Prorektorin Internationales“ der IU, Regina Cordes, in einem Brief an das LEA gewandt, der der taz vorliegt. Ein Sprecher der Hochschule gibt an, die IU habe „sofort reagiert und das Gespräch mit dem LEA gesucht, um gemeinsam eine Lösung im Sinne der Studierenden zu finden“. Allerdings würde die neue, mit dem LEA abgestimmte Studienordnung erst ab Herbst gelten: „Damit sind alle internationalen Studierenden der IU in Berlin ab Oktober 2025 von der geänderten Visavergabe des LEA nicht mehr betroffen“, so die IU. Ab Oktober 2025 wird das Blended-Learning-Programm der IU mit der Mischung aus Online- und Präsenzlehre wohl zu einem reinen Präsenzstudium.

Für Shivam Kumar und seine 450 ebenfalls von den Visa-Ablehnungen betroffenen Mitstudierenden könnte diese Änderung aber zu spät kommen. Sie müssten sich dann wohl erneut auf ein Studium bewerben, vielleicht auch die Studiengebühren erneut bezahlen. Wie hilft die IU den Studierenden, die jetzt aktuell von den Ablehnungen betroffen sind und Angst haben? Die IU gibt an, dass sie eine Taskforce zur Beratung der Studierenden eingerichtet habe, außerdem habe es Informationsveranstaltungen gegeben und bis zur Einigung mit dem LEA am 25. Mai 2025 auch juristischen Beistand für die Studierenden.

Kumar schildert das anders: Es gebe zwar Beratung, aber kaum konkrete Hilfe. Die Studierenden würden Standardantworten erhalten, er fühle sich vertröstet. Die Verunsicherung sei allgemein groß unter den indischen Studierenden am Berliner IU-Standort. „Es kursieren viele Gerüchte“, sagt er.

Der Koffer bleibt ständig gepackt

Mittlerweile hat Kumar vom LEA eine Fiktionsbescheinigung bekommen, eine Art Übergangsvisum. Ein weiterer Termin mit dem Amt findet erst nach Redaktionsschluss statt. Kumar macht sich große Sorgen: Was, wenn all die Zeit und vor allem das viele Geld, das er investiert hat, umsonst waren? Völlig offen sei, ob er seine Studiengebühren zurückbekommen würde, wenn er nach Indien ausreisen müsste. „Allen Studierenden im Blended-Studienformat wurde bereits versichert, dass sie auf jeden Fall online weiterstudieren können, falls es in Zukunft zu einer finalen Ablehnung kommen sollte“, antwortet die IU auf diese Frage.

Kein Wort zu möglichen Erstattungen. Immerhin hat Shivam Kumar im Voraus Studiengebühren für ein Studium vor Ort in Berlin bezahlt – nicht für ein reines Fernstudium, das günstiger gewesen wäre. Für die IU geht ab dem Wintersemester 2025 das Geschäft mit den Studiengängen für indische Studierende also weiter. Kumar und seine Kommilitonen hängen aber weiter in der Luft.

Migrationsanwalt Stroh sagt, es gebe auch noch eine andere Möglichkeit für sie. Da es sich bei diesen Vorgängen um einen Präzedenzfall handele, es zu diesem Fall also bisher keine Rechtsprechung und keine juristischen Kommentare gebe, rät er den indischen Studierenden, sich einen Anwalt zu nehmen. „Das lohnt sich unbedingt, wenn sie in Deutschland bleiben wollen.“ Shivam Kumar sagt, er könne sich keinen Anwalt für so einen Prozess leisten. Er will stattdessen schnell seinen Abschluss machen. „Vielleicht kann ich dann einen Job finden und mich auf ein Arbeitsvisum bewerben, wenn mein Studentenvisum abgelehnt wird.“

Ob der Abschluss von der IU aber so viel auf dem Arbeitsmarkt wert ist, wie Yadav und Kumar hoffen, ist fraglich. Der Hessische Rundfunk (HR) berichtete im Oktober 2024 über eine ehemalige Studentin, die in Frankfurt die IU verklagt hat. Das duale Bachelor-Studium Architektur an der IU entspräche nicht den Anforderungen, um sich überhaupt Architektin nennen zu dürfen. Auch diese Studentin hatte viel Geld in ein Studium investiert. Der HR berichtete weiter, dass in Frankfurt weitere sieben Fälle verhandelt werden, in denen Studierende eine finanzielle Entschädigung von der IU fordern. In Düsseldorf liefen zudem fünf solcher Verfahren, in München sechs, in Stuttgart eins; allein in Erfurt würden 30 Parteien klagen.

Mittlerweile warnen sich Inderinnen und Inder auch auf Social-Media-Plattformen davor, ein Studium an der Berliner IU zu beginnen. „Avoid this university in Germany“, rät der Account „Mylingual_Visa“ seinen Followern. Auch der Youtube-Account „Rare Overseas Education“ weist indische Studierende darauf hin, dass es in Berlin Probleme mit den Visa-Verlängerungen der Studierenden der IU gegeben habe.

Ritik Yadav fühlt sich betrogen: Er wünschte sich eine gute Ausbildung, jetzt ist nicht mal klar, wie viel sein Abschluss an der IU wert ist

Sie sollen kommen, aber Hilfe gibt es nicht

Sollte mit dem Anwerben der indischen Studierenden nicht auch eine Verantwortung des Bundesinnenministeriums (BMI) einhergehen? Ein Sprecher des Ministeriums antwortet auf Anfrage der taz jedoch, dass das Migrationsabkommen zwischen Indien und Deutschland die Bundesregierung nicht dazu verpflichte, „Schritte zu unternehmen, um indischen Studierenden dabei zu helfen, die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis zur Erwerbstätigkeit zu schaffen“.

Am ursprünglichen Ziel, mehr ausländische Studierende nach Deutschland zu holen, halte man aber fest: „Gleichwohl ist die Erhöhung der Zahl ausländischer Studierender (…) ein Ziel der Bundesregierung.“ Der Sprecher erklärt allerdings auch, dass das BMI für die Umsetzung dieser Maßnahmen nicht zuständig sei und verweist auf andere Ministerien.

Aber müsste Deutschland nicht wenigstens sicherstellen, dass die Visa der potenziellen Fachkräfte verlängert werden? Nein, sagt das BMI: „Für die Prüfung, ob die rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels vorliegen, sind die nach Landesrecht zuständigen Behörden verantwortlich.“

Die IU und Up-Grad haben mit dem Migrationsabkommen jedenfalls eine lukrative Geschäftslücke für sich entdeckt und profitieren davon, dass die indischen Studierenden bereit sind, viel Geld zu investieren, um ihre Position auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Ritik Yadav, Shivam Kumar und ihre Kommilitonen sind derweil in Deutschland weiter auf sich allein gestellt und haben Angst davor, dass sie bald wieder ausreisen müssen.

Währenddessen liefern sie Essen aus, ziehen von Wohnung zu Wohnung und versuchen, zwischendurch auch noch gute Noten zu schreiben. Kein Wunder also, dass Ritik Yadav enttäuscht von Deutschland ist: „Wir kommen hierher, um zu studieren und einen guten Job zu finden. Dafür verschulden wir uns, aber am Ende arbeiten wir hier als Kurierfahrer und man behandelt uns wie Sklaven.“

Nina Scholz arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Sie hat sich bei der Recherche oft gefragt, ob gerade eine neue Phase der unrühmlichen Geschichte deutscher Anwerbe­abkommen beginnt.

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg

Quelle: International University

Quelle: IW

Quelle: IW

Quelle: StBA

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