Correctiv-Recherche im Theater: Es braucht Aufklärung für alle
Die Lesung der Correctiv-Recherche im Berliner Ensemble diente der politischen Aufklärung. Doch sie richtete sich nur an das Bildungsbürgertum.
V ielleicht wird dieser Abend auch Teil einer neuen Erzählung: Einer Erzählung, die damit beginnt, dass wir uns gegen die faschistischen Kräfte in unserem Land wehren. Es könnte eine Erzählung sein, die zeigt, dass wir viele sind. Dass wir laut sind. Dass wir als Zivilgesellschaft nicht pennen. Sondern dass wir hellwach sind. Und dass wir unsere Demokratie nicht kaputt machen lassen.“
Mit diesem Appell endet nach gut einer Stunde am Dienstag die szenische Lesung der Correctiv-Recherche zum „Geheimplan gegen Deutschland“ auf der Bühne des Berliner Ensembles.
Die Recherche hatte aufgedeckt, wie hochrangige AfD-Politiker*innen, Neonazis und Unternehmer*innen bei einem Treffen in Potsdam im November die Vertreibung von rund 25 Millionen Menschen aus Deutschland planten. Nachdem die Veranstaltung im Theater angekündigt und im Internet scharf kritisiert wurde, entstand beinahe der Eindruck, die Gegner säßen nicht ganz rechts im Bundestag, sondern auf der Bühne.
Belustigung des weißen Bildungsbürgertums?
Der Journalist Deniz Yücel etwa sprach auf der Kurznachrichtenplattform X von einer „kulturindustriellen Verramschung des Politischen“. Der Vorwurf: Correctiv beute die reale Bedrohung durch den Rechtsextremismus aus Sensationsgier und zur Belustigung des weißen Bürgertums aus.
Die Inszenierung war in der Tat überraschend lustig. Das lag aber nicht am Inhalt der Gespräche, sondern vielmehr daran, wie sicher sich die Gäste des Treffens darüber zu sein schienen, dass nichts davon nach außen dringen würde.
Und dann sind da noch die Passagen, in denen eine Figur auf der Bühne einer anderen Figur halbironisch sagt, sie solle nicht von einem „Haufen Faschos“ sprechen. Schließlich sei das ja nicht belegt. Humor kann helfen, Nazis auf eine Normalgröße zu schrumpfen, die bekämpfbar ist – solange man den Ernst der Lage nicht aus den Augen verliert. Das wusste schon Charlie Chaplin.
Und so zeigt der Abend, dass Schauspiel leisten kann, was dem investigativen Journalismus nicht zusteht. Um als Reporter*in glaubwürdig zu bleiben, muss man alles beweisen können, was man schreibt. Die Kunst hingegen darf überspitzen, fiktionalisieren und Partei ergreifen. Politisches Theater, Theater als Ort des Diskurses hat in Deutschland aus gutem Grund eine lange Tradition. Mit der Inszenierung der Recherche kehrt das Berliner Ensemble nun zu den Wurzeln seines Gründers Bertolt Brecht zurück.
Neue, kreative Wege im Journalismus
Natürlich sind die Übergänge zwischen Theater und Journalismus manchmal fließend, wie der in Akte gegliederte Originaltext des Correctiv-Teams beweist. In Zeiten von Instagram, Tiktok & Co müssen Medienschaffende neue, kreative Wege finden, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf relevante Themen zu lenken.
Studien aus der Kommunikationswissenschaft zeigen, dass Storytelling ein Weg sein kann, ein Thema verständlich und einprägsam zu präsentieren. Dass dies im Hinblick auf den „Geheimplan gegen Deutschland“ gelungen ist, haben die mehr als 100.000 Demonstrant*innen deutschlandweit in den letzten Tagen bewiesen.
Die Aufführung am Berliner Ensemble hat diesen Effekt weiter verstärkt. 19.000 Menschen schalteten am Mittwochabend den Livestream ein, viele weitere kamen zu den Public Viewings in Bochum, Dresden, Hannover, Rostock und Oberhausen, die alle in Theaterhäusern stattfanden. Sie alle erfuhren weitere Details über den rechtsextremen Hintergrund der Gäste in Potsdam und ihre tiefe Verstrickung in die AfD.
Solche Details sollten aber nicht nur dem ausgewählten Publikum im Theater vorbehalten bleiben. Warum nicht investigative Recherchen im Fernsehen präsentieren? In der Halbzeitpause eines Fußballspiels zum Beispiel. Oder anstelle von Werbeblöcken im Abendprogramm? Schließlich ist das Skript der szenischen Lesung für jede*n im Internet frei zugänglich.
Die Diskussion dauert an
War die Lesung im Berliner Ensemble tatsächlich nur eine „kulturindustrielle Verramschung“? Wäre es besser gewesen, wenn sich das Theater nicht zu den Deportationsplänen positioniert hätte? Dann würde der Vorwurf wohl lauten, dass sich das linke Bildungsbürgertum in seinen Privilegien eingerichtet hätte und sich scheue Stellung zu beziehen. Immerhin geht mit der Lesung die Diskussion über das Gesehene noch lange, nachdem der Vorhang gefallen ist, weiter.
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