Coronavirus in Singapur: Kontrollverlust im Musterland
Singapur hat bei der Bekämpfung des Coronavirus seine Arbeitsmigranten „übersehen“. Wo sich 20 Personen ein Zimmer teilen, breitet sich das Virus aus.
Am Dienstag meldete das Gesundheitsministerium 1.111 neue Fälle. Darunter sind aber nur 20 singapurische Staatsbürger oder Personen mit Daueraufenthaltsrecht, alle anderen sind Arbeitsmigranten. Am Montag war mit 1.427 Neuinfizierten eine Rekordzahl gemeldet worden, darunter 1.369 Arbeitsmigranten.
Die billigen Arbeitskräfte aus Süd- und Südostasien, deren Zahl im 5,6-Millionen-Einwohner-Land auf 800.000 geschätzt wird und ohne die in Singapur nichts geht, machen jetzt mehr als Dreiviertel aller Infizierten aus.
Unter den Arbeitsmigranten konnte sich das Virus schnell verbreiten, denn 200.000 von ihnen wohnen in Heimen, darunter 43 Megaheime mit mehreren Tausend Bewohnern. Dort teilen sich bis zu 20 Personen einen Schlafsaal und noch mehr Menschen Küchen und sanitäre Einrichtungen. „Soziale Distanz“ ist dort unmöglich. Auch suchen Arbeitsmigranten aus Angst vor Jobverlust ungern Ärzte auf.
Megaheime sind Megaproblem
Inzwischen räumen die Behörden ein, dass es in mehr als der Hälfte der Megaheime, wo laut Entwicklungsminister Lawrence Wong meist Bauarbeiter untergebracht sind, bestätige Coronafälle gibt. 18 dieser Heime wurden inzwischen zu Quarantänelagern erklärt, welche die Bewohner nicht verlassen dürfen.
Nach Meinung von Hilfsorganisationen werden die Bewohner damit aber noch größeren Risiken ausgesetzt. Die Regierung hat die Versorgung mit Lebensmitteln und Lohnfortzahlungen zugesagt. Einige Heime wurden evakuiert und die Bewohner in Militärlagern und in einem Messegelände untergebracht. In allen Quarantänezentren wird regelmäßig auf das Virus getestet und die gesamte Einrichtung desinfiziert.
Laut Premierminister Lee Hsien Loong, dem Sohn des singapurischen Staatsgründers Lee Kuan Yew, hat die große Mehrzahl der Infizierten in Singapur nur leichte Symptome. Das liegt auch daran, dass die Arbeitsmigranten in der Regel noch jung sind und keine Vorerkrankungen hat.
Wenige Todesfälle
Bisher zählt Singapur nur insgesamt elf Coronatote und gehört damit zu den Staaten Südostasiens mit der geringsten Todesrate. Das ist auf Singapurs gutes Gesundheitssystem zurückzuführen.
Die Weltgesundheitsorganisation spricht zwar jetzt von „sehr schwierigen Herausforderungen“, erklärt aber zugleich, dass der Stadtstaat sowohl über das zur Überwindung der Krise nötige Gesundheitssystem als auch über die notwendigen Kapazitäten verfügt.
Singapur hatte wegen der anfänglichen Erfolge in der Bekämpfung des Virus erst am 7. April Ausgangsbeschränkungen verhängt. Doch am Dienstag hat der Premierminister sie bis zum 1. Juni verlängert. Eine Maskenpflicht gilt seit dem 15. April.
Es erstaunt, dass die autoritäre Regierung, die sonst nichts unkontrolliert lässt, die Situation der Migranten zunächst so vernachlässigt hat. Eine Erklärung dafür könnte die Arroganz der mehrheitlich chinesischstämmigen Elite der Finanz- und Handelsmetropole gegenüber dunkelhäutigen Arbeitskräften aus armen Nachbarstaaten sein, wie sie in dem von Hollywood verfilmten gleichnamigen Roman „Crazy Rich Asians“ des US-Singapurers Kevin Kwan thematisiert wird.
Die Pandemie unterstreiche die Notwendigkeit, bessere Bedingungen für Arbeiter zu schaffen, sagt Alex Au von der Migrantenhilfsorganisation TWC2: „Das Problem ist das gesamte Wirtschaftsmodell Singapurs. Unser Wohlstand ist auf der Voraussetzung oder der Erwartung billiger Arbeit aufgebaut“.
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