Coronakrise im Einzelhandel: Tschüss Späti
Ob Kiosk oder Media Markt, die Corona-Pandemie setzt den Ladenbesitzern massiv zu. Der Branchenverband befürchtet das Sterben vieler Geschäfte.
Heute kommen vor allem Stammkunden vorbei, um Tiryaki und seinem Kleinladen Lebewohl zu sagen. „Die Corona-Einschränkungen haben meinem Geschäft das Genick gebrochen“, erklärt er eins ums andere Mal. Tiryaki hatte im Juli zunächst abgewartet, ob sich der Umsatz nach der Aufhebung der ersten Kontaktbeschränkungen nicht doch wieder erholen würde. Doch da im August immer noch keine Erholung in Sicht ist, hat er aufgegeben. Tiryaki hat dem Vermieter und den Lieferanten von der Tabak- bis zur Getränkefirma gekündigt. Jetzt gibt es in der Louisenstraße keinen Nachbarschaftsladen mehr.
Viele andere Geschäfte in Deutschland stehen ebenfalls vor dem Aus, obwohl die zweite Welle der Corona-Pandemie noch gar nicht richtig begonnen hat. Der Handelsverband Deutschland (HDE) sieht 50.000 von 450.000 deutschen Ladenstandorten akut bedroht. „Schon die erste Pandemie-Welle hat viele Handelsunternehmen an den Rand der Insolvenz gebracht“, sagt HDE-Hauptgeschäftsführers Stefan Genth.
„Eine zweite Welle würde auf einen teilweise extrem geschwächten Einzelhandel treffen.“ Einer Verbandsumfrage zufolge sehen sich 27 Prozent der Händler in ihrer Existenz gefährdet. Und in dieser Zahl sind die vielen Lebensmittelgeschäfte noch gar nicht eingerechnet.
Selbst die Schwergewichte des Einzelhandels sind dagegen nicht immun. Die Elektroketten Media Markt und Saturn wollen Filialen schließen, weil die Corona-Pandemie die Verlagerung des Geschäfts ins Internet beschleunigt hat. „Angesichts rückläufiger Kundenfrequenzen“ prüft der Mutterkonzern Ceconomy nach eigener Auskunft, „europaweit in begrenztem Umfang defizitäre Stores zu schließen.“ Es sollen zwar nur 20 Filialen sein, wie inoffiziell zu hören ist. Dennoch markiert die Ceconomy-Entscheidung eine Abkehr vom Wachstumskurs.
Eingebrochene Umsätze vor allem bei Bekleidungsläden
Am meisten Sorgen macht sich der HDE derzeit um die Bekleidungsgeschäfte. „Hier sind in der Corona-Krise große Umsatzlöcher entstanden, die nicht wieder gestopft werden können“, sagt Genth. „Niemand kauft im Hochsommer einen Übergangsmantel.“ Die deutsche Tochter der schwedischen Kette Gina Tricot ist bereits insolvent. Der Laufschuh-Spezialist Runners Point will sich aus Deutschland zurückziehen und alle 80 Läden abwickeln. Die bei Jugendlichen beliebte Kette Tally Weijl aus der Schweiz schließt ein Viertel ihrer 800 Filialen. Der Mutterkonzern von Zara, Inditex, hat bereits angekündigt, weltweit 1.200 unrentable Geschäfte zuzumachen.
Doch auch die kleinen Läden sind bedroht, die zum sozialen Zusammenhalt der Stadtteile beitragen. Tiryaki stand in den vergangenen 13 Jahren jeden Tag 12 Stunden im Laden. Viele seiner Kunden kannte er und hat ihnen die gewünschte Ware schon hingelegt, bevor sie den Tresen erreichten; einige von ihnen nannten ihn „Cem“, weil sie sich seinen richtigen Namen nicht merken konnten.
Den meisten Umsatz brachte Tiryaki der Tabak, danach die Getränke, die Süßigkeiten und das Lotto. „Die Einnahmen haben sich mit Beginn des ersten Lockdowns halbiert“, sagt Tiryaki. Seine wichtigsten Kunden waren Studenten und Mitarbeiter der nahen Uniklinik Charité, außerdem Angestellte aus den umliegenden Bürogebäuden. Ein Zusatzgeschäft brachten die Touristen, die sich vom Brandenburger Tor aus zuweilen in sein Viertel verirrten.
Nicht alle Kunden blieben aus, doch zuweilen kam eine Stunde lang überhaupt keiner in seinen Laden – das gab es früher nie. Die Einnahmen reichen in diesem Sommer gerade, um die Kosten wie die Miete zu decken. Ein Überschuss, also das Einkommen für Tiryaki und seine Familie, konnte er nicht mehr erwirtschaften.
Programme passten nicht
In die Wirkung weiterer staatlicher Hilfen hat Tiryaki nur wenig Zutrauen; bisher passte jedenfalls keines der Programme richtig zu seinem Fall. Den Branchenverband bestätigt diese Beobachtung: „Nur ein kleiner Teil der Unternehmen konnte bisher direkte Zuschüsse durch das Sofortprogramm erhalten.“ Genth fordert daher einen Innenstadt-Fonds mit zusätzlichen 500 Millionen Euro. Ohne weitere Hilfen drohen seiner Ansicht nach „Geisterstädte“.
Nur scheinbar paradox fordert er zugleich zusätzliche 100 Millionen Euro für die Digitalisierung kleiner Händler – sie sollen eben auch vom Trend zum Onlinehandel profitieren. Das kann aber auch helfen, Pleiten und damit Ladenschließungen zu vermeiden.
Ungebrochen ist derweil der Wille der Kleinunternehmer im Einzelhandel, sich nicht unterkriegen zu lassen. Yalcin Tiryaki plant im kommenden Jahr sein Comeback. Eine so gute Lage wie diesmal in Mitte wird er zwar kaum wiederfinden. „Doch ich werde mit Sicherheit wieder einen Späti aufmachen, wenn diese Krise vorbei ist, und wir wieder Kunden haben.“
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