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Coronabeschlüsse für WeihnachtenPreis der Lockerungen

Tobias Schulze
Kommentar von Tobias Schulze

Bund und Länder geben mit den Ausnahme­regeln zu Weihnachten ihre Eindämmungsziele auf. Damit rückt ein bisschen Normalität im Alltag in weite Ferne.

Bleiben die Infektionszahlen hoch, bleiben die Kneipen geschlossen Foto: Guido Kirchner/dpa

D er Corona-November war ein besonderer Monat: Zur Pandemiebekämpfung gaben die Regierungen von Bund und Ländern in gerade mal vier Wochen gleich drei verschiedene Losungen vor. Die ersten beiden standen noch im Einklang miteinander. Mit der dritten aber, den Weihnachtsbeschlüssen vom Mittwoch dieser Woche, ändern die Regierungen den Kurs der Coronapolitik ganz deutlich.

Zu Beginn des Monats sollte der neue Teillockdown, begrenzt bis Ende November, das exponentielle Wachstum der Neuinfektionen stoppen. Ein einleuchtendes Ziel, wären sonst doch die Intensivstationen in absehbarer Zeit überfüllt gewesen. Medizi­ne­r*in­nen hätten todkranken Pa­tien­t*in­nen die Behandlung verweigern müssen. Seit das im März in Italien der Fall war, gilt eine solche Situation auch in Deutschland zu Recht als Horrorszenario.

Als das exponentielle Wachstum zur Monatsmitte tatsächlich gestoppt war, rückte ein anderes Ziel in den Vordergrund: die Zahl der Infektionen auf 50 pro 100.000 Personen und Woche zu senken. Ab diesem Wert traut die Politik den Gesundheitsämtern zu, wieder nachverfolgen zu können, wo sich infizierte Personen angesteckt haben. Ab diesem Punkt wäre prinzipiell also wieder eine „Coronanormalität“ möglich, wobei Restaurants, Museen und Fitnessklubs unter Hygieneauflagen öffnen können.

Mit den Beschlüssen vom Mittwoch geben die Regierungen das 50-Neuinfektionen-Ziel jetzt aber wieder auf. Explizit sagen sie das nicht, in der Konsequenz läuft aber alles darauf hinaus. Die zunächst nur leicht verschärften Beschränkungen werden kaum ausreichen, um die Infektionszahlen bis Weihnachten entscheidend zu senken. Durch die Lockerungen, die über die Feiertage und bis Neujahr geplant sind, dürften die Zahlen anschließend eher wieder steigen.

Normalität rückt in weite Ferne

Unterm Strich könnte sich also bis weit in den Januar hinein die aktuelle Situation fortsetzen: Die Kontaktnachverfolgung ist zwar nicht mehr möglich, die Zahlen sind immer noch hoch und die Kliniken stark belastet. Es besteht aber zumindest für den Moment keine akute Gefahr der Überlastung. Die Zahlen sind auf hohem Niveau stabil, und die Regierungen geben sich damit zufrieden, dass die Pandemie halb unter Kontrolle ist.

Die für Weihnachten vorgesehenen Lockerungen haben aber einen hohen existenziellen Preis: Mit den Infek­tions­zahlen werden wohl auch die Todeszahlen auf hohem Niveau bleiben. Aktuell sterben pro Tag deutlich über 200 Menschen an oder mit Corona, in letzter Zeit sogar mehrmals über 400. Die Anzahl sei so hoch, wie wenn täglich ein Flugzeug abstürze, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in dieser Woche.

Für Weihnachten nehmen er und ein Großteil der übrigen RegierungschefInnen das trotzdem in Kauf. Das ist grundsätzlich auch legitim, schließlich werden Lebensrisiken in diversen Bereichen laufend gegen andere Güter abgewogen. Im konkreten Fall stehen gegen den absoluten Lebensschutz die Interessen des Handels (der Lebensmittel, Feuerwerk und Geschenke verkaufen will) und die Bedürfnisse der Gesunden. Viele von ihnen wollen gerade in diesem Pandemiejahr, das an den Kräften zehrt, zumindest über die Feiertage etwas Normalität erfahren. Auch das ist etwas wert.

Nur, und damit kommen wir wieder zurück zum Anfang: Bleiben die Infektionszahlen hoch, rückt dafür auch die Möglichkeit einer Teilnormalität im Alltag in weite Ferne. Die Gesundheitsämter sind noch länger überfordert. Die Kontaktnachverfolgung funktioniert weiterhin nicht. Der Besuch im Pflegeheim, der Kinoabend oder das Handballtraining sind noch länger gestrichen. Dabei sind auch das Ereignisse, die im anstrengenden Pandemiewinter Kraft spenden könnten. Und dabei hängen auch hieran Umsätze und wirtschaftliche Existenzen.

In der Summe bleibt von den Weihnachtslockerungen also wenig übrig. Nur eines: das Leid der Kranken.

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Tobias Schulze
Parlamentskorrespondent
Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
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7 Kommentare

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  • Herrn Söders drastischer Vergleich trifft den Nagel auf den Kopf.



    Nur, wenn Kontakte auf das Minimum reduziert werden, sinken die Todeszahlen wieder. Es gibt immer noch kein Heilmittel, und bis die Bevölkerung geimpft ist, zumindest der Teil, der will, vergehen noch Monate bis Jahre.

  • "Als das exponentielle Wachstum zur Monatsmitte tatsächlich gestoppt war"

    Biologische Populationen wachsen logistisch, und die exponentielle Phase stoppt früher oder später von selbst.

    Was nicht normal ist, ist dieses Verharren auf hohem Niveau. Das sollte bei so rapidem Wachstum in der exponentiellen Phase nicht vorkommen. Falls jemanden der wissenschaftliche Hintergrund interessiert: en.wikipedia.org/w..._carrying_capacity und vor allem de.wikipedia.org/w...Abhängigkeit_von_r ("r" ist mit dem "R-Wert" verwandt, aber nicht identisch; off the top of my head ist aber wenn R(eff) = 1 ist, auch r = 1. Jedoch senken infektionseindämmende Maßnahmen K; siehe erster Wikipedia-Link)



    Irgendein Faktor verhindert einen schnellen Rückgang der Neuinfektionen, wie man ihn in Frankreich in geradezu atemberaubender Lehrbuchhaftigkeit erkennen kann, und wie er aktuell in Italien stattfindet.

    Wenn ich einen Kandidaten nennen müsste, sind es die veränderten Testkriterien. Am Anstieg der Positivrate der Tests (immerhin fast 2 Größenordnungen in anderthalb Monaten!) sieht man, dass da etwas im Argen liegt.

    Ganz platt gesagt: die Infektionszahlen steigen *vermutlich* in Wirklichkeit weiter, nicht mehr "exponentiell", aber sie steigen, nur ist die Dunkelziffer durch die von "unzureichend" auf "nahezu vollkommen schwachsinnig" geänderten Testkriterien so hoch angestiegen, dass es wie eine Konstante aussieht. Mit den aktuellen RKI-Kriterien werden wertvolle PCR-Tests in der Differentialdiagnostik verschwendet, wo man sie besser durch 2 Schnelltests oder 1 CT ersetzen würde. Der primäre Nutzen der PCR-Tests, nämlich Diagnostik in der *präinfektiösen/-symptomatischen* Phase, der bis zur Einführung der neuen LAMPs von Schnelltests kaum leistbar ist, findet de facto nicht mehr statt; man lässt dem Virus seinen Lauf, und wer dran stirbt oder zum Pflegefall wird, hat halt Pech gehabt, Eigenverantwortung und so.

    • @Ajuga:

      "die exponentielle Phase stoppt früher oder später von selbst."



      Und zwar dann wenn die Resourcen die das Wachstum treibt aufgebraucht sind. Bei Corona sind dies die Menschen die sich infizieren. Eine natürliche Stabilisierung von Infektionen ist also entweder bei Erreichen der Herdenimmunität (in D wäre das bei Corona mit Pi-mal-Daumen 400.000 Toten verbunden) zu erwarten, oder aber wenn die Population so weit ausgedünnt ist, dass die Infektionen zum Erliegen kommen, zu beobachten etwa bei der in Australien zur Kaninchenbekämpfung eingesetzten Myxomatose, bei deren Ausbrüchen jeweils ein paar Prozent der Population überleben und daduch ein Räuber-Beute-Gleichgewicht entsteht. Beides also kein Szenario das man für Corona ansteben sollte.



      "einen schnellen Rückgang der Neuinfektionen, wie man ihn in Frankreich in geradezu atemberaubender Lehrbuchhaftigkeit erkennen kann"



      Die Zahlen in Frankreich gehen aber nicht deshalb zurück weil das exponentielle Wachstum auf natürlichem Wege erschöpft, sondern weil man dort eine Reihe knallharter Auflagen beschlossen hat die, die deutsche Politik sich nicht mal im Konjunktiv zu formulieren traut.

    • @Ajuga:

      Danke für die Informationen. Ist ja gruselig.

      • @resto:

        Frage: Und das ist neu für Sie? Das wird jetzt seit über 6 Monaten in den Medien rauf und runtergebetet. Mal abgesehen davon das das meiste Wissen aus der mittleren Reife ist. Da braucht man keinen Dr. in Biologie für.

  • Als Österreicher kann ich nur sagen: Hätten wir uns (jeder einzelne beziehungsweise als Gesellschaft) über den Sommer solidarisch benommen, würden wir nun die Einschränkungen nicht erfahren.

    Ist wie beim Lernen: Immer ein bisschen oder alles auf einmal.

    • @Alexander Tschirk:

      Ischgel wäre aber noch immer n NoGo - ganz klar.