Corona und moralische Korrektheit: Die Lust an der Disziplin
Drei rote Fäden haben sich durch das zu Ende gehende Jahr gezogen. Sie heißen Corona, Herrschaft des Mobs und rechter Populismus.
A uf einem der roten Fäden, die sich durch dieses nun zur Neige gehende Jahr gezogen haben, hängt ein Schildchen mit der Aufschrift „Corona“. Einer der Irrtümer bezüglich dieser Pandemie, der sich übers Jahr 2021 hinweg beharrlich hielt, war die Vorstellung, man müsse nur noch ein bisschen „durchhalten“, dann sei bald alles wieder wie früher. Erst langsam scheint sich die Erkenntnis Bahn zu brechen, dass wir uns mit dieser Krise noch ein, zwei, und – wenn’s dumm geht – noch drei oder vier Jahre werden auseinandersetzen müssen. „Long Covid“ hat auch eine soziale Bedeutung.
Ein weiterer Irrtum, von dem in letzter Zeit aber nur noch wenig zu hören war, trug den Namen „Zero Covid“. Damit war ein kommunistischer Super-Lockdown gemeint, für den das Kapital bezahlen sollte. Dummerweise dachte dieses in warmen Kreuzberger Stuben gefeierte Konzept nicht mit, dass das Einfrieren des gesellschaftlichen Lebens auf der ganzen Welt gleichzeitig stattfinden müsste, um zu funktionieren. Alternativ hätte man natürlich auch ein paar Jahre lang die Grenzen hermetisch abriegeln können, um im schönen Deutschland die Früchte von „Zero Covid“ genießen zu können.
Währenddessen entwickelte sich mit fortschreitender Pandemie in manchen Menschen ein unerbittlicher Stolz, der jenen eigen ist, die von sich wissen, dass sie – im Gegensatz zu den unmoralischen und dummen anderen – alles richtig machen. Keine Maßnahme war hart genug, um von ihnen nicht noch als zu lasch und unzureichend empfunden zu werden. Die leiseste Kritik am Pandemiemanagement der Regierung wurde mit dem Entsenden rhetorischer Kanonenboote beantwortet.
Die protestantische Lust an rigoroser Disziplinierung von sich und anderen braucht ein Publikum, und so feierte man mittels Selfie mit entblößtem Arm und Pflaster die eigene moralische Korrektheit. Das modische Äquivalent der neuen Geißelkultur sind ganz in Schwarz gekleidete Hipster, die ihre FFP2-Masken auch bei frischer Brise nachts um zwei tragen, wenn sie ihre Hunde ausführen.
Progressive Mobber*innen
Es zieht sich noch ein roter Faden durch das Jahr, der mit „Herrschaft des Mobs“ charakterisiert werden könnte. Denn wer heute gut gelaunt polemisiert, hat schnell eine Meute am Hals, die all jene, welche die meist billig zu habende Meinung des Mobs nicht teilen, als Rechte und Reaktionäre outet und an den Pranger stellt. Unter den progressiven Mobber*innen tummeln sich gern auch mal Leute, die man nie auf einer Demo sah und denen Arbeit an emanzipatorischer Praxis sowie das mühsame Formulieren von Kritik eher lästig zu sein scheint.
Ein dritter roter Jahresfaden führt uns last but not least zum Phänomen des rechten Populismus, dessen Siegeszug ins Stocken zu kommen scheint. In Chile gewann eben ein junger Linker die Wahl, der sich die Abwicklung des neoliberalen Projekts auf die Fahne geschrieben hat. Gleichzeitig war zu hören, dass sich die Briten mit ihrer populistischen Brexit-Politik wirtschaftlich tief ins eigene Fleisch geschnitten haben.
Die Abwahl Donald Trumps ist schon ein paar Tage her. Doch noch immer sind die USA damit beschäftigt, den traumatischen Sturm aufs Capitol aufzuarbeiten. In dieser Woche hörte man von den vielen Nachrichten, die Donald Trump erreichten, nachdem er den Mob dazu aufgestachelt hatte, gegen eine demokratische Wahl zu putschen: Er solle die Massen doch endlich nach Hause schicken, flehten ihn konservative Fox-Moderatoren an. Selbst Donald junior raufte sich die Haare. Das alles juckte den Möchtegerntyrannen nicht.
Den Jakobinern unter uns muss rätselhaft erscheinen, dass Trump an seiner nächsten Wahlkampagne arbeiten darf. In der guten alten Zeit hätte die Republik den Mann kurzerhand wegen Hochverrats verurteilt und guillotiniert. Die Jakobiner von heute sollten aber eine humanere Strafe fordern, sagen wir: lebenslange Verbannung auf eine Pazifikinsel, selbstredend ohne Internetzugang. Trump Tower könnte in Zukunft als Obdachlosenasyl genutzt werden. In diesem Sinne: frohes Fest und guten Rutsch!
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