Corona in Lateinamerika: Die soziale Zeitbombe
Bis zu zwei Drittel der Bevölkerung in Lateinamerika lebt von der Hand in den Mund. Die Corona-Quarantäne wird für viele zur Überlebensfrage.
I n der brasilianischen Metropole Sāo Paulo wurde am 26. Februar der erste positive Coronatest in Lateinamerika registriert. Zehn Tage später, am 7. März, gab die argentinische Regierung den Tod einer an Covid-19 verstorbenen Frau bekannt – das erste Opfer auf dem Subkontinent. Seitdem hat eine Regierung nach der anderen das gesellschaftliche Leben heruntergefahren, den Schulunterricht ausgesetzt, Grenzen geschlossen und in vielen Fällen den nationalen Notstand ausgerufen. Militärs patrouillieren nicht nur in den Straßen im ecuadorianischen Guayaquil, sondern auch im bolivianischen El Alto oder in Guatemala-Stadt, um die Quarantäne, die in vielen Staaten Lateinamerikas mit umfangreichen Ausgangssperren verstärkt wird, durchzusetzen.
Reduzierte Öffnungszeiten von Märkten und Geschäften ergänzen das Instrumentarium, mit dem viele Regierungen in Lateinamerika versuchen, die Infektionsquote mit dem Virus so flach wie irgend möglich zu halten.
Maßnahmen, die alternativlos sind, die aber einem großen Teil der Bevölkerung die Lebensgrundlage beschneiden. 44 Prozent der Bevölkerung in Kolumbien sind offiziellen Daten zufolge im informellen Sektor tätig, in Ecuador rund 60 bis 70 Prozent und in Bolivien gar bis zu 80 Prozent. „Viele dieser Menschen leben von der Hand in den Mund. Wer nicht arbeitet, isst nicht, so lautet die bittere Realität“, sagt der ecuadorianische Gesundheitsexperte Juan Cuvi. Doch genau diese Bevölkerungsgruppe hat die Regierung in Quito anfangs vollkommen vergessen. Erst seit Anfang April hat sie damit begonnen, je 60 US-Dollar an rund 400.000 im informellen Sektor tätige Frauen und Männer auszuzahlen.
Als „unzureichendes Schmerzmittel“ hat der Menschenrechtsanwalt Mario Mello dieses Sozialprogramm kritisiert, das nur einen Bruchteil der Menschen erreiche, die auf den Straßen und Märkten des Landes Waren, Dienstleistungen oder ihre Arbeitskraft anbieten: von den Kleinhändlerinnen über die Schuhputzer bis zum Fuhrbetrieb. Nur ein Aspekt der Ungleichheit, die das Gros der Gesellschaften in Lateinamerika charakterisiert.
ist freiberuflicher Journalist. Er schreibt für die taz, das Amnesty Journal und für die NZZ aus und über Lateinamerika. Über den Rauswurf der UN-Kommission gegen Straflosigkeit schrieb er zuletzt in der taz am 8. Januar unter dem Titel „Die Angst des Jimmy Morales“.
Ein anderer ist die Tatsache, dass 45 Prozent der Unterkünfte in Ecuador offiziellen Quellen zufolge „inadäquat“ sind. Darunter fallen Wohnungen und selbst gebaute Unterkünfte genauso wie windschiefe Baracken und aus Plastikplanen, Holz und Pappe zusammengezimmerte Hütten – oft ohne fließend Wasser, zum Teil ohne Stromanschluss. „Wer kann unter diesen Bedingungen zu Hause bleiben und dort die Quarantäne überleben?“, fragt Alberto Acosta, Ökonom und Theoretiker nachhaltiger Wirtschaftskonzepte aus Ecuador.
Quarantäne kann in den Armenvierteln von Guayaquil, dem Pandemie-Hotspot Ecuadors, in Guatemala Stadt oder im kolumbianischen Bogotá nur dann funktionieren, wenn auch die soziale Absicherung gewährleistet ist. Das ist aber längst nicht überall der Fall. Das Risiko, dass die Menschen aus Hunger die Quarantäne verletzten, ist real, warnen Gesundheitsexperten.
In Lateinamerika tickt eine Zeitbombe. Deren Explosion könnte sich nicht nur im Sturm auf Supermärkte und Lebensmittellager niederschlagen, sondern auch in einer Infektionswelle mit unkalkulierbaren Opferzahlen. Ein Szenario, das den ehemaligen Finanzminister Kolumbiens, Mauricio Cárdenas zu seinem Appell animiert haben könnte, die finanziellen Hilfsmaßnahmen für die informell arbeitenden Bevölkerungsschichten aufzustocken.
Bisher fallen diese, ob in Bolivien, Guatemala, Ecuador oder Kolumbien, ausgesprochen dürftig aus. Zudem wurden sie meist mit Zeitverzögerung auf den Weg gebracht. In Ecuador oder Bolivien kommen die knapp bemessenen Gelder für Nahrungsmittel erst seit Anfang April zur Auszahlung. Ein eklatanter Widerspruch zur Notwendigkeit, die Infektionskurve so flach wie irgend möglich zu halten, denn Lateinamerikas Gesundheitssysteme sind schwach und können schnell kollabieren unter dem Ansturm von Covid-19-Patienten.
In Guayaquil, der bis dato am stärksten von Covid-19 getroffenen Stadt Lateinamerikas, ist das bereits geschehen: Es gab dort Patienten, die von Kliniken wegen Überlastung abgewiesen wurde und im Auto verstarben. Szenarien, die auch in den Nachbarländern drohen, wo die Gesundheitssysteme überaus fragil sind. In Peru stehen 685 Betten mit intensivmedizinischer Ausrüstung für 31 Millionen Menschen zur Verfügung, in Bolivien sind es 323 für 11,3 Millionen Einwohner. Besser sieht es in Argentinien Uruguay oder auch Ecuador aus, deutlich mieser in Ländern wie Honduras, El Salvador oder Guatemala.
Intensivbetten? Fehlanzeige
Erschwerend kommt hinzu, dass sich fast überall eine Zwei-Klassen-Medizin etabliert hat. Gut ausgestatteten Privatkliniken in den Metropolen stehen die prekär ausgestatteten Krankenhäuser der öffentlichen Hand gegenüber, so Stefan Peters, Leiter des deutsch-kolumbianischen Instituts für Friedensforschung (Capaz) in einem Beitrag für die kolumbianische Wochenzeitung Semana. In den ländlichen Regionen ist die Gesundheitsversorgung zudem nur rudimentär vorhanden. Intensivbetten? In aller Regel Fehlanzeige. Diese strukturellen Defizite, ein Produkt von Haushaltskürzungen und einer verfehlten, auf Privatisierung setzenden Gesundheitspolitik, sorgen dafür, dass Lateinamerikas Gesundheitssysteme schnell kollabieren könnten. Vollkommen unklar ist zudem, ob die privaten Kliniken im Zweifel für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen öffnen werden.
Diese Gruppen sind in der aktuellen Coronakrise gleich mehrfach benachteiligt. Deshalb raten Experten zu mehr finanzpolitischem Mut, um sie besser zu versorgen. Während Alberto Acosta dafür plädiert, die Bedienung der Auslandsschulden auszusetzen und das Geld in das ausgeblutete Gesundheitssystem und Nahrungsmittelprogramme umzuleiten, geht Peters noch einen Schritt weiter. Er plädiert für eine effektive Besteuerung der lateinamerikanischen Eliten, die in aller Regel wenig bis gar keine Steuern zahlen. Zudem soll eine zehnprozentige Vermögensabgabe von Milliardären und Millionären die Maßnahmen finanzieren, die eine soziale Krise und daraus resultierend den Kollaps des Gesundheitssystems verhindern soll.
Besonders für Lateinamerika sind das revolutionäre Vorschläge.
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