Corona in Großbritannien: Vierte Stufe zum Vierten Advent
Die britische Regierung verhängt wegen der Virusmutation schärfere Coronamaßnahmen über weite Teile Englands. Viele Menschen reisen trotz Verbots.
„Es ist meine Pflicht, schwere Entscheidungen zu treffen, um die Menschen dieses Landes zu schützen. Als Premierminister steht mir keine andere Option zur Verfügung“, sagte er.
Auch in Wales rief die dortige Labour-geführte Autonomieregierung die neue „Stufe vier“ aus, während Schottlands Regierung die Schließung der Grenze nach England verkündete; ab dem 26. Dezember gilt dann auch dort „Stufe vier“. So wird es im Vereinigten Königreich nun kein Weihnachtsfest wie vorgesehen geben.
Bisher galt, wie die Regierung am 23. November mitgeteilt hatte, dass sich über die Weihnachtszeit fünf Tage lang ausnahmsweise Personen aus drei Haushalten treffen dürften. Der britische Verkehrsminister hatte sogar 3 Millionen Pfund für 80.000 Busreisen extra hingeblättert, damit Menschen zu Weihnachten bequem und sozial distanziert zu ihren Verwandten reisen könnten.
Der Eurostar steht still
Wer in Zonen der „Stufe vier“ lebt, darf nun überhaupt keine anderen Menschen besuchen, designierte und permanente Kontaktpersonen ausgenommen, auch nicht zu Weihnachten. In allen anderen Gebieten darf man nur Angehörige eines Haushalts für einen Tag lang treffen. In „Stufe vier“ ist es Menschen auch verboten zu reisen, es sei denn, es ist unbedingt notwendig, etwa zu Arbeitszwecken. Zu Silvester soll starke Polizeipräsenz Massenaufläufe verhindern.
Als Reaktion darauf kappten andere europäische Länder die Einreise aus Großbritannien, darunter Deutschland. Der Eurostar – die Zugverbindung unter dem Ärmelkanal – fährt ab Montag nicht mehr. „Wir kontaktieren alle Menschen, die Reisen gebucht haben, sie erhalten alle eine volle Kostenrückerstattung“, erklärte eine Sprecherin von Eurostar der taz.
Die Maßnahmen seien notwendig geworden, erklärte Johnson, weil am Freitag der Regierung neue Einsichten über eine Mutation des Coronavirus, wissenschaftlich als Strang VUI2020/12/01 bezeichnet, vorgelegt wurden.
Die Mutation, die sich in der Grafschaft Kent südöstlich von London und in London selber ausgebreitet hat, soll bis zu 70 Prozent mehr ansteckend sein als das herkömmliche Sars-CoV-2-Virus. 62 Prozent aller Neuinfizierungen in London gingen auf diese neue Mutation zurück, so die Mediziner, die die Regierung beraten.
Flucht aus London
Zu der Erkenntnis war es gekommen, als sich das Virus in Kent und in Teilen Londons stark verbreitete, obwohl dort bereits die Höchststufe der bisherigen Coronarestriktionen galt.
Obwohl die Mutation weiter untersucht werden müsse – sie gleicht einer in Dänemark, die dort die Massenkeulung sämtlicher Nerzbestände zur Folge gehabt hatte –, wird angenommen, dass sie keine schwereren Erkrankungen nach sich zieht als die bekannte Variante. Auch die bestehenden Impfstoffe sollen weiterhin wirksam sein.
An den Bahnhöfen und Autobahnen Londons kam es am Samstagabend kurzfristig zu verstärktem Reiseverkehr, weil manche versuchten, noch schnell vor Mitternacht in den Norden und Westen des Landes zu reisen. Von einigen Zügen wurde gemeldet, dass das Einhalten der Abstandsregeln nicht mehr möglich gewesen sei.
Auch am Sonntag standen am Bahnhof Kings Cross, von wo die Fernzüge nach Nordengland und Schottland starten, noch zahlreiche Reisende, teilweise mit Weihnachtsgeschenken bepackt. Das Bahnhofspersonal stand an den Eingängen, hinderte jedoch niemanden am Betreten des Bahnhofs.
Kontrollen an Schottlands Grenze
Eine Familie erzählte der taz, dass sie – nun unerlaubterweise – ins nordenglische Leeds zurückfahren wollte und erst gestern für Weihnachtseinkäufe nach London gekommen sei. Die Reise mache ihnen zwar Sorgen, aber sie hätten keine andere Wahl.
Ein Bahnhofsangestellter am benachbarten Bahnhof St. Pancras, wo unter anderem der Eurostar abfährt, sagte der taz, es werde über Ansagen und auf Bildschirmen auf die neuen Richtlinien hingewiesen, aber weder Bahnangestellte noch die Polizei würden eingreifen.
An der Grenze Englands zu Schottland sei die Polizei angewiesen, zu kontrollieren, sagte die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Auf direkte Anfrage der taz hieß es jedoch von der schottischen Polizei, dass man ein Eingreifen nur als allerletzte Maßnahme verstehe, dass die Polizei auf Vernunft hoffe und Menschen eher gut zureden werde.
Schottlands Vizepolizeichef Alan Speirs erklärte der taz: „Wir haben bisher deutlich gemacht, dass wir nicht routinemäßig Fahrzeuge stoppen oder Straßensperren einrichten werden.“
Johnson-Regierung unter Druck
Politisch steht Johnsons Regierung mit den Maßnahmen unter Druck. Bereits als die Regierung die fünf Tage Lockerungen zu Weihnachten ankündigten, wurde dies kontrovers diskutiert – in der Bevölkerung und auch im Parlament. Als sich die Virusverbreitung nach dem letzten Lockdown wieder stark erhöht hatte, forderte der britische Ärzteverband die Regierung auf, die weihnachtlichen Freiheiten wieder einzuschränken.
Letzten Mittwoch schloss sich Labour-Oppositionsführer Keir Starmer im Unterhaus dieser Forderung an, worauf Boris Johnson ihm empört vorwarf, den Menschen Weihnachten verbieten zu wollen.
Dass er das nun am Samstag selbst tat, missfällt wiederum Abgeordneten der eigenen Partei, der Johnson mehrmals versprochen hatte, zukünftige Änderung von Coronaregeln im Unterhaus vorzustellen.
Inzwischen forderte der Vizevorsitzende der Gruppe der konservativen Hinterbänkler, Charles Walker, sogar den Rücktritt von Gesundheitsminister Matt Hancock. „Ich tue meine Pflicht im Kampf gegen eine globale Pandemie“, wehrte sich dieser am Sonntag im BBC-Fernsehen.
Hoher Anstieg der Neuinfektionen
Sowohl Boris Johnson als auch sein Gesundheitsminister wiederholten, dass sie stets dem wissenschaftlichen Rat folgten und dass alle Entscheidungen nach neuesten Erkenntnissen getroffen würden. Währenddessen läuft das britische Impfprogramm weiter, das am 8. Dezember begonnen hatte.
Bis Samstagmorgen wurden in Großbritannien 350.000 Personen geimpft. In der letzten Woche starben 3.050 Menschen, während 173.263 Personen positiv getestet wurden, ein Anstieg um 38,6 Prozent zur Vorwoche.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag