Corona: Sorge vor häuslicher Gewalt: In vielen Familien wird es enger
Geschlossene Schulen, Kitas, Jugendeinrichtungen – gerade für belastete Familien bricht damit mehr weg als nur die Betreuung während der Arbeitszeit.
„Bis jetzt berichten alle nur über wirtschaftliche Folgen“, sagt Arche-Sprecher Wolfgang Büscher. Dabei habe der Shutdown für Kinder aus belasteten Familie Folgen, die sich viele gar nicht ausmalen könnten. „Wir rechnen damit, dass die Gewaltquote in den Familien erheblich steigen wird“, sagt Büscher. Familienhelfer und Streetworker teilen diese Sorge.
Außer dem Mittagessen bieten die Arche-Häuser Nachhilfeunterricht, gemeinsame Spiele oder Sport. Alles kostenfrei, finanziert aus Spenden. In den letzten Tagen und Wochen hätten die Mitarbeiter:innen den Kindern, auch manchen Eltern erklärt, was es mit der Krankheit auf sich habe, über die jetzt alle sprechen und die den Familien so viele Einschränkungen abverlangt.
„Manche Eltern hatten tatsächlich noch nichts davon gehört, auch das gibt es“, so Büscher. Dass nun zur Eindämmung des Virus neben vielen Geschäften auch Schulen, Kitas und andere Betreuungseinrichtungen geschlossen wurden, treffe viele Familien und vor allem die Kinder hart, die sonst in Einrichtungen wie die Arche kommen.
Da ist zum einen das Essen. Weil viele prekär lebende Familien mit den warmen Mahlzeiten in Schule oder auch der Arche kalkulierten, sei nun das Geld noch knapper als ohnehin. Die nächste Auszahlung von Transferleistungen gibt es erst zum Monatswechsel. Am Dienstag habe eine weinende Mutter bei ihm angerufen, sie habe noch 12 Euro und kaum mehr Essen zu Hause.
Zumindest diese Sorge will man trotz geschlossener Häuser mildern. „Wir haben unsere Familien informiert, dass wir ab sofort auch Lebensmittel nach Hause bringen.“ Die Teams der jeweiligen Häuser, die auch aus vielen Ehrenamtlichen bestehen, wollen sich nun jeden Morgen zusammensetzen – mit Sicherheitsabstand, versteht sich –, um Touren und Maßnahmen zu planen.
Tafeln schließen fast alle Ausgabestellen
Auch die Berliner Tafel musste einen Großteil ihrer 45 Lebensmittelausgabestellen schließen und will nun trotzdem eine Art Notversorgung für Menschen aufrechterhalten. „Wir arbeiten mehr als je zuvor“, sagt Vereinsvorsitzende Sabine Werth. Am Mittwoch habe man mit der Auslieferung an die registrierten Kund:innen begonnen – allerdings maximal einmal pro Woche, vielleicht sogar nur alle 14 Tage könnten sie künftig Lebensmittel nach Hause gebracht bekommen.
50.000 Menschen kommen jährlich zu den Ausgabestellen der Tafel, darunter ebenfalls viele Familien mit Kindern. Das werde eine wahnsinnige logistische Herausforderung, sagt Werth. „Eigentlich ist die Versorgung eine staatliche Aufgabe, aber wir können die Menschen ja jetzt nicht im Stich lassen.“ In der vergangenen Woche hatte Werth noch darüber berichtet, dass aufgrund der Hamsterkäufe immer weniger Lebensmittelspenden bei der Tafel eingingen. „Das hat sich eingepegelt.“ Zudem kommen zusätzliche Spenden, etwa aus Hotels, die ihren Betrieb dichtmachen müssen.
Fast noch größere Sorge macht den Akteur:innen der Unterstützungssysteme aber die Frage, wie sich die vielen Schließungen, vor allem die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche auf das Miteinander in den Familien auswirken. Henry Block ist Familienhelfer und zweiter Vorsitzender des Berufsverbands für Soziale Arbeit Berlin. In Wedding betreut er mehrere Familien im Auftrag der Jugendämter – weil sie selbst um Hilfe gebeten haben oder weil das Jugendamt aus Schutzgründen aktiv werden musste.
Aggression und Überforderung
Es sind Familien, in denen Aggressionen und Überforderung an der Tagesordnung sind, die häufig mit vielen Personen auf engem Raum leben und für die die fehlende Kinderbetreuung eine weiterreichende Herausforderung ist als die Frage, wie man ungestört im Homeoffice arbeiten kann.
„Für diese Familien ist die externe Betreuung Teil des Stabilisierungssystems“, sagt Block. Auch er befürchtet eine Zunahme von Krisen und Gewalt, rechnet mit Polizeieinsätzen und einem Ansturm auf den Kinder- und Jugendnotdienst. Er und seine KollegInnen sind weiter im Einsatz, zumindest bei Familien, in denen das Jugendamt aus Kinderschutzgründen aktiv wurde. „Wir treffen uns jetzt vorwiegend draußen mit unseren Klienten“, sagt Block.
Auch die Streetworker des Trägers Outreach suchen kreative Wege, mit der Krise umzugehen. Berlinweit sind sie mit 114 Mitarbeiter:innen vertreten, um Jugendliche und ihre Familien zu unterstützen. Seine Jugend- und Mädchenstadtteilläden musste Outreach schließen. „Aber wir arbeiten alle weiter“, sagt Geschäftsführer Ralf Gilb. Man habe quasi digitale Jugendzentren gegründet, kommuniziere per Whatsapp und Instagram.
Durch virtuelle Fitnessgruppen, Buchvorstellungen, Lieder, Filme, Challenges versuchten die Streetworker, den Kontakt zu den Jugendlichen trotz sozialer Distanz nicht abreißen zu lassen. „Wir leisten auch viel Aufklärungsarbeit, wie man sich jetzt verhalten, was man unterlassen sollte“, sagt Gilb. Und in Krisenfällen, die auch Gilb vermehrt befürchtet, werde man selbstverständlich weiter persönlich mit den Jugendlichen arbeiten.
Sponsor gefunden
Auch bei der Arche will man belasteten Familien über Lebensmittel hinaus Unterstützung anbieten, damit in der Enge des ständigen Beisammenseins die Situation nicht zum Schaden der Kinder eskaliert. „Wir haben zum Beispiel gerade einen Sponsor gefunden, der uns eine Vielzahl von Gesellschaftsspielen zur Verfügung stellt“, sagt Arche-Sprecher Büscher. Per Messengerdiensten will man auch hier mit den betreuten Familien in Kontakt bleiben.
Ob das reichen wird? „Wir sind ja gerade erst am Anfang, ich möchte gar nicht wissen, wie es in einer Woche aussieht“, sagt Büscher. Vor allem wenn es zu noch schärferen Maßnahmen wie einer Ausgangssperre kommen sollte.
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