Corona-Hotspot Gütersloh: Warum wurde der Lockdown kassiert?

Wegen des Corona-Ausbruchs bei Tönnies wurde der gesamte Kreis Gütersloh dichtgemacht. Ein Gericht in NRW hat die Regeln nun gekippt.

Das verlassene Werksgelände von Tönnies.

Das Tönnies-Werksgelände in Rheda-Wiedenbrück, Kreis Gütersloh Foto: dpa

BOCHUM taz | Entgegen seiner bisherigen Rechtssprechung hat das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht den Corona-Lockdown im Kreis Gütersloh aufgehoben. Die im gesamten Kreisgebiet angeordnete Schließung öffentlicher Treffpunkte, etwa Kitas, Kinos, Fitnessstudios, Hallenbädern oder Museen sei unverhältnismäßig, urteilte das Gericht mit Sitz in Münster. Schließlich habe sich das Virus in Gemeinden im Norden und Osten des Kreises weitaus weniger verbreitet als in Rheda-Wiedenbrück und Gütersloh.

Dort hatte ein Ausbruch im Rheda-Wiedenbrücker Schlachthof des Fleischhändlers und Ex-Schalke-Aufsichtsratsvorsitzenden Clemens Tönnies die Infektionszahlen explodieren lassen. Von den rund 7.000 Mitarbeitern der riesigen Fleischfabrik sind mehr als 1.500 mit Covid-19 infiziert. Als Grund für den Ausbruch werden nicht eingehaltene Abstandsregeln, zu hohe Arbeitsbelastung der oft aus Osteuropa stammenden Tönnies-Arbeiter*innen sowie die Kälte in dem Schlachtbetrieb vermutet.

Mit der Infektion von mehr als einem Fünftel der Tönnies-Belegschaft stieg die entscheidende Zahl der innerhalb von sieben Tagen an Corona Neuerkrankten weit über den bundesweit geltenden Grenzwert von 50. Auf das gesamte Kreisgebiet lag er zum Höhepunkt des Tönnies-Ausbruchs vor zwei Wochen bei 270,2.

Allerdings lebt der Großteil der Neuinfizierten rund um den Schlachthof: Bis Sonntag wurde Covid-19 in der Stadt Rheda-Wiedenbrück bei 940, in der Stadt Gütersloh bei 642 Menschen nachgewiesen. In Gemeinden wie Schloß Holte-Stukenbrock waren es dagegen nur 41, in Werther in Ostwestfalen bei Bielefeld sogar lediglich 23.

Tönnies Schlachthof bleibt zu

Damit unterscheide sich die „Gefährdungslage“ in diesen Teilen des Gütersloher Kreisgebietes nicht „signifikant von derjenigen in anderen außerhalb des Kreisgebietes gelegenen Städten und Gemeinden vergleichbarer Größenordnung“, so das Oberverwaltungsgericht zur Urteilsbegründung in einer Pressemitteilung – Gemeinden wie Schloß Holte-Stukenbrock und Werther würden durch den kreisweit verhängten Lockdown also unverhältnismäßig benachteiligt.

Allerdings wären die Schließungsverfügungen und das Verbot, sich mit mehr als zwei Menschen in der Öffentlichkeit zu bewegen, an diesem Mittwoch sowieso ausgelaufen. Die von CDU und FDP getragene Landesregierung versucht deshalb, das Urteil als Erfolg zu verkaufen. Die Schließungen seien „Vorsichtsmaßnahmen“ gewesen, die „solange gelten sollten, bis ein möglicher flächendeckender Eintrag in die Gesamtbevölkerung ausgeschlossen werden kann“, sagte Nordrhein-Westfalens CDU-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann am Dienstagabend.

Dies sei gelungen: Bei über 55.000 Einzeltest seien nur 96 Corona-Infizierte ermittelt worden, die nicht bei Tönnies arbeiten – was zeigt, wie isoliert die osteuropäischen Arbeiter*innen leben. Würden die aus der Corona-Statistik herausgerechnet, liege die Zahl der in den vergangenen sieben Tagen neu Infizierten kreisweit bei nur 22,8. Laumann fordert, damit müssten auch „Beherbergungsverbote“ aufgehoben werden, die Urlaubsländer wie Niedersachsen oder Bayern für Menschen aus Gütersloh verhängt hatten.

Landtags-Oppositionsführer Thomas Kutschaty von der SPD kritisierte dagegen erneut, der Landesregierung fehle eine „konsistente Teststrategie“. Wäre in Hotspots wie der Fleischindustrie ausreichend kontrolliert und getestet worden, hätte der Corona-Ausbruch bei Tönnies eher erkannt und der Lockdown vermieden werden können, glaubt der Sozialdemokrat.

Güterslohs CDU-Landrat Sven-Georg Adenauer reagierte dagegen erleichtert auf das Urteil: „Die Zeit der Stigmatisierung ist hoffentlich vorbei“, erklärte der Enkel des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Von einer schnellen Wiedereröffnung des riesigen Tönnies-Schlachthofs wollte Adenauer allerdings nichts wissen: „Das Konzept, das die Firma vorgelegt hat, beantwortet bei Weitem nicht alle Fragen, die geklärt werden müssen“, sagte Adenauer. „Einen Neustart gibt es erst, wenn alles sicher ist.“

Besonders innerhalb der Tönnies-Belegschaft sei das Virus längst nicht verschwunden, warnte Adenauer am Montag: In seinem Kreis seien 44 neue Corona-Fälle festgestellt worden – 42 davon in Zusammenhang mit Tönnies. Tierschützer*innen hatten am Wochenende das Dach des Schlachthofs besetzt und die dauerhafte Schließung des Betriebs gefordert. Auch die Hauptzufahrt des Betriebs blockierten Demonstrant*innen – und forderten auf Transparenten: „Schluss mit der Ausbeutung von Mensch, Tier, Natur“.

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