Corona-Entwicklung in Deutschland: Cleveres Kanzlerinnenmanöver
Mit ihrem Podcast am Wochenende beschränkt sich Merkel auf den Appell an die Deutschen. Noch zögert sie mit strengen Verboten.
D er jüngste Auftritt von Angela Merkel wirkte etwas seltsam. In ihrem wöchentlichen Podcast warnte die Kanzlerin wortstark vor den Gefahren der Coronapandemie: Es sei eine „sehr ernste Phase“, in der „jeder Tag zählen“ würde. Doch dann folgte – nichts. Keinerlei Verbote wurden angekündigt, sondern alles bleibt weiterhin der einzelnen BürgerIn überlassen. Freiwillig sollen die Deutschen aufs Reisen verzichten und immer schön zu Hause sitzen.
Auch die Kanzlerin dürfte wissen, dass dieser Kurs scheitern wird. Bisher gibt es kein einziges Land in Europa, dem es gelungen wäre, die Zahl der Coronatoten einzudämmen, indem man allein auf die Freiwilligkeit der BürgerInnen setzt. Schon sehr bald dürfte es daher in Deutschland zu Verboten kommen.
Es ist also etwas seltsam, dass Merkel kostbare Zeit verstreichen lässt, obwohl „jeder Tag zählt“. Doch die Kanzlerin weiß, was sie tut. Zynischerweise muss sie warten, bis es so viele Coronakranke in den Hospitälern gibt, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen akzeptiert, dass Verbote unumgänglich sind.
Noch ist die Kanzlerin im sogenannten Präventionsparadox gefangen: Wird durch frühe Verbote verhindert, dass sich die Pandemie verbreitet – dann werden ganz viele WählerInnen glauben, Corona sei gar nicht besonders gefährlich, und sich durch die Regierung gegängelt fühlen. Das kostet Stimmen, ist also für die Politik denkbar unattraktiv.
Stattdessen fährt Merkel einen Mittelkurs. Sie warnt so laut und häufig, dass es niemand überhören kann. Wenn die Infektionszahlen dann weiter steigen, kann sie gütig schweigen – und die Verbote durchsetzen, ohne dass sie es noch nötig hätte, ihre Widersacher in der Politik und unter den WählerInnen zu belehren. Dann weiß sowieso jeder, wer mal wieder recht hatte.
In der Coronakrise zeigt sich erneut, wie Merkel als Kanzlerin regiert hat: Sie ist extrem sachkundig und kennt sich in fast allen Themen bestens aus. Aber sie führt nicht, sondern sie moderiert die gegebenen Mehrheiten.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart