Cornern als Massenphänomen: Sehen und gesehen werden
Bei allen Versuchen, das Cornern einzuschränken, zeigt sich: Das Trinken auf der Straße ist in den Szenevierteln Hamburgs nicht totzukriegen.
„Cornern bietet jungen Menschen einen konsumfreien Raum“, sagt Mathias Rohrer vom Institut für Jugendkulturforschung in Hamburg. Diese Räume würden immer enger. Was sich für die Betreiber*innen von Abendlokalen wie eine ignorante Revolte anfühlt, ist in Wirklichkeit schon immer da gewesen:
Zwei oder mehr Personen treffen sich bei einem Getränk. Die eine Person erzählt von Herausforderungen ihres Alltags und die andere kratzt dabei gelangweilt Etiketten vom Flaschenhals. Fragen wie „Sag mal, langweile ich dich gerade?“ können dabei konsequent als Drohung verstanden werden und sind deswegen zu verneinen.
Klar, solche Gespräch können auch in Parks stattfinden, doch Bordsteinkanten besitzen sozialen Charakter. Parkbesucher*innen dagegen verlangen auch im Freien nach Privatsphäre. Es ist ein unausgesprochenes Gesetz, ganz abgesehen von Corona, in Parks Abstand zu wahren. Wenn Blicke töten könnten, wären die letzten Worte von vielen Parkbesucher*innen: „Schon gut, ich stell die JBL-Box aus. Nur noch das eine Lied.“
Cornern: Die Suche nach dem Erlebnis
Beim Cornern hingegen gilt es als bescheiden, seine Privatsphäre als etwas zu akzeptieren, dass man dank Social Networking schon lange nicht mehr hat. Da braucht man auch nicht mehr anfangen, damit zu geizen. Cornern ist das FKK der Gedanken. Es ist nicht die Suche nach Entspannung, sondern nach dem Erlebnis. „Von 18 Jahren bis in die frühen 30er trifft man hier auf überwiegend studentisches Milieu“, sagt der Jugendkulturforscher Rohrer.
Auf der Straße sind alle gleich, Popos in No-Name-Jogginghosen finden sich neben hochwassersicherem Beinkleid, Abendtäschchen neben Jutebeuteln. Und auch wenn die cornernden Gruppen meist unter sich bleiben, ist die Möglichkeit des Sehens und Gesehenwerdens immer gegenwärtig: Die Aussicht auf eine Bekanntschaft ist größer, wenn man nach Feuer fragt, als wenn man die Kellner*innen um ein zweites Bier bittet.
In einer Großstadt wie Hamburg, wo jeder sein eigenes Ding macht, aber insgeheim lieber gemeinsam etwas machen würde, wirkt es beruhigend, sich an etwas festhalten zu können: Bordsteinkanten und Bier. Alles kann, nicht muss, aber könnte. Die Wegkanten des Konjunktivs sind unergründlich – und genau deswegen so anziehend für Mittzwanziger der Generation Y, die auf der Suche nach ihrer Individualität die Bordsteinkanten als kurze Rast im Dickicht der Möglichkeiten nutzen.
An lauen Sommerabenden, wenn die stickige Luft aus Klubs und Bars nach One-Night-Stand am Morgen riecht, wirkt eine Straßenkante plötzlich sehr viel attraktiver. Hintergrundgespräche und eigene Musik ersetzen aufgezwungene Klub-Beats. Ein „Was hast du gesagt?! Die Musik ist so laut!!“ wird dann zu Unterhaltungen über Politik oder diese eine gute Serie.
Man könnte fast sagen, man hätte eine Mischung aus Klub und Bar auf die Straße verlegt, ohne Zwang oder Enge – dafür mit einem Falafel in der Hand. „Cornern bietet Freiheit“, sagt Jugendforscher Rohrer. Und sei es die Freiheit, bis vier Uhr morgens zu verweilen – oder eben nach nur einer Stunde weiterzuziehen.
Daran ändern auch Verbote von Außer-Haus-Verkäufen von Alkohol an Wochenenden nichts. Trotz dieser Verordnungen, trotz Platzverweisen der Polizei aufgrund des Infektionsrisikos hören die Menschen nicht auf zu cornern. „In Zusammenhang mit Corona muss man zugeben, dass der öffentliche Raum unkontrollierter ist als beispielsweise Kneipen oder Läden. Die Regeldurchsetzung ist hier schwieriger“, sagt Rohrer.
Wo ein Wille ist, ist auch im nächsten Bezirk noch eine Bordsteinkante frei und ein Kiosk offen. Um das Cornern zu unterbinden, müssten die Bürgersteige abends hochgeklappt werden. Geht nur leider nicht!
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