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Coming-of Age-Film „Zeiten des Umbruchs“Zwischen Holocaust und Kaltem Krieg

Im sehr persönlichen Film „Zeiten des Umbruchs“ erzählt US-Regisseur James Gray zwei Jugendlichen, die in New York Anfang der 1980er aufwachsen.

Unzertrennlich: Johnny und Paul (Jaylin Webb und Michael Banks Repeta) Foto: Focus Features, LLC

Rumpelnde Klänge, ein Glockenspiel, ein Bass, alles ein wenig verschwommen herüberwehend, das sind die ersten Geräusche, bevor der Film richtig begonnen hat. Sie stammen von der Single „Armagideon Time“ der britischen Punkband The Clash (1979), sind aber gegenüber dem Original stärker in einzelne Spuren zerlegt, aus denen sich der Reggae-Song allmählich formt.

Im Bild taucht auf der schwarzen Leinwand dazu der Titel im Stil eines Graffito auf: „Armageddon Time“. So hat der US-amerikanische Regisseur James Gray seinen jüngsten Spielfilm genannt, mit dem er im Mai in Cannes im Wettbewerb vertreten war.

Jetzt kommt sein Film in Deutschland ins Kino. Wobei zu erwähnen wäre, dass man mit deutschen Verleihtiteln einen Film mehr oder minder elegant erledigen kann. Und das ohne Not, gibt es doch seit einigen Jahren vermehrt die Praxis, englische Originaltitel hierzulande einfach zu belassen: „The Menu“, „Licorice Pizza“ oder ­„Bones and All“, um ein paar jüngere Beispiele zu nennen.

Zeit für Katastrophen

James Grays „Armageddon Time“ widerfuhr dieses Glück leider nicht, er heißt hier „Zeiten des Umbruchs“, obwohl es kaum an der Angst an mangelnder Verständlichkeit gelegen haben dürfte. Das biblische „Armageddon“, das Gray im Titel verwendet, ist zudem viel treffender als das blasse Wort „Umbruch“, denn es geht im Film durchaus um Katastrophen, solche, die hinter einem liegen, und solche, die einem noch bevorstehen.

Zeiten des Umbruchs

„Zeiten des Umbruchs“. Regie: James Gray. Mit Anne Hathaway, Jeremy Strong u. a. USA 2022, 114 Min.

Der Titelheld Paul Graff (zart, frech, unberechenbar: Michael Banks Repeta) kommt im Sommer 1980 in Queens in eine öffentliche Schule. Er eckt sofort an. Statt aufzupassen, tut er lieber, was er gut kann, sehr gut sogar: zeichnen. Oder Quatsch machen. Nicht unbedingt zur Freude des pädagogischen Personals.

Am ersten Schultag in der 6. Klasse werden er und sein afroamerikanischer Mitschüler Johnny Davis (stoisch wach: Jaylin Webb) wegen ihrer Späße vom schlechtgelaunten Lehrer an die Klassentafel zitiert. Als Paul hinter dessen Rücken weiter albert und die Klasse lacht, ermahnt der Lehrer, der meint, Augen im Rücken zu haben, stattdessen Johnny. Die beiden Jungen freunden sich an.

Gravierende Unterschiede

Der soziale Unterschied zwischen ihnen ist deutlich. Während Johnny bei seiner gebrechlichen Großmutter lebt und kein Geld für Klassenausflüge aufbringen kann, ist Pauls Familie bürgerlich solide. Pauls großer Bruder Ted geht auf eine Privatschule, der Vater macht irgendetwas Technisches, man ist nicht reich, doch es reicht allemal. Auch in der Familie hat Paul seine Schwierigkeiten: Den Erwartungen, die an ihn gestellt werden als Schüler, wird er nicht gerecht, zu Hause ist er aufsässig.

Gray schildert das alles mit einer scheinbar gelassen beobachtenden Nüchternheit, spart andererseits keine häusliche Eskalation aus. Besonders die Szenen am Esstisch sind in einer Enge inszeniert, in der das gegenseitige Beharken der Brüder und die scharfen Reaktionen der Eltern einen fast schrillen Kontrast bilden zur Altersmilde der dabeisitzenden Großeltern, die oft zu Besuch kommen.

In diesen nervös dynamischen Momenten verdichtet Gray, der das Drehbuch eng an seiner eigenen Kindheit entlang geschrieben hat, die verschiedenen Ängste, die sich in Pauls Familie überlagern. Da ist zunächst die Erinnerung an den Holocaust der Großeltern. Pauls Großvater Aaron (sehr abgeklärt: Anthony Hopkins), mit dem der Junge sich am besten versteht, erzählt oft von seiner Zeit in der Ukraine und der Flucht aus dem teils von den Nazis besetzten Europa in die USA.

Aaron ermuntert Paul zudem, sich als Künstler zu versuchen. Dem steht der Anpassungsdruck gegenüber, den Pauls Eltern Irving (unsicher entschlossen: Jeremy Strong) und Esther (zwischen sanft und streng: Anne Hathaway) spüren und an die Kinder weitergeben, die „ja nicht auffallen“ sollen. Schließlich sind da noch die Ängste, wohin die Weltpolitik im Kalten Krieg steuert, im Fernsehen laufen Werbespots mit dem konservativen Präsidentschaftskandidaten Ronald Reagan.

Paul sieht sich selbst zwischen der Aufforderung seines Großvaters, gegenüber den rassistischen Mitschülern „a mensch“ zu sein, und der Hoffnung seines Vaters, der Sohn möge es einmal (noch) besser haben als er selbst, fast zerrieben. Die Lage verbessert sich nicht, als Paul von der öffentlichen an die Privatschule seines Bruders wechseln muss, die unter anderem ein Fred Trump finanziert.

Dort muss er seinen Freund Johnny vor den neuen Mitschülern verleugnen, versucht diesem aber heimlich zu helfen. Wobei sich zeigt, dass die Einfälle des eher weltfremden Paul nicht immer die besten sind.

Der klare, nie rührselige Blick Grays macht aus dieser Coming-of-Age-Geschichte ein ergreifendes Drama, denn mit dramatischen Szenen spart der Film nicht. Gray findet eine gute Balance zwischen Härte und emotionaler Einfühlung in seine Figuren. Und die juvenilen Stars des Films, Michael Banks Repeta und Jaylin Webb, tragen die Erzählung als ganz selbstverständlich ungleiches Paar. Eine weitere Stütze ist Jeremy Strong als zweifelndes Familienoberhaupt.

James Gray, der 1994 mit „Little Odessa“, einer klugen Variation des Thriller-Genres, debütierte und danach von Abenteuer („Die versunkene Stadt Z“, 2016) bis Science-Fiction („Ad Astra“, 2019) verschiedenste Erfahrungen als Regisseur gesammelt hat, erliegt in „Zeiten des Umbruchs“ nie der Versuchung, den Konventionen des Hollywood-Kinos zu genügen. Der Anpassungsdruck hat am Ende nicht gesiegt.

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